Freitag, 5. August 2022: Storsjön und Östersund
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Wir befinden und jetzt ziemlich genau in der Mitte Schwedens. Der Storsjön ist mit seinen über 450 km2 der fünftgrößte See des Landes. In ihm lebt ein Ungeheuer namens Storsie, das das Ergebnis der Kochkunst der Trolle Jata und Kata ist. Früher stand es unter Artenschutz. Mittlerweile darf es wieder gejagt werden, was aber keinerlei Konsequenzen für Storsie hat, da es sich sowieso nicht blicken lässt.
In der Gegend gibt es viele Möglichkeiten für Aktivitäten. Meine Wanderleidenschaft konnte ich auf dem St. Olavs Pilgerweg zur Frösön-Kirche auf der Insel Frösön ausleben. Wer sich für schwedische Geschichte interessiert, wird von Jamtli in Östersund begeistert sein. Elche kann man ganz aus der Nähe in Orrviken im Moose Garden beobachten. Für Menschen, die Geologie als Abenteuer betrachten, ist ein Besuch des Meteoritenzentrums Locknekratern in Ängsta zu empfehlen.
In Östersund werden viele Touren angeboten, um die Besonderheiten der Umgebung kennen zu lernen.
Östersund selbst ist es ebenfalls wert, erkundet zu werden. Etwa 50.000 Menschen leben hier. 1786 wurde die Stadt in einer kaum besiedelten Gegend bei der Brücke zur Insel Frösön von König Gustav III. in Auftrag gegeben und von Johan Törsten geplant. Die Straßen von Östersund sind deshalb in Nord-Süd-Richtung, die Gassen in Ost-West-Richtung angelegt. Es dauerte allerdings lang, bis daraus eine florierende Siedlung wurde. Dafür ist es jetzt umso schöner, durch die Innenstadt oder am Seeufer zu bummeln.
Meine Meinung:
Ich bin länger geblieben, als ich ursprünglich vorhatte. Vor allem die Insel Frösön hat es mir angetan. Der Moose Garden war sehr nett, und da mir auf der restlichen Reise zwar unzählige (viel zu viele) Rentiere, aber keine Elche in freier Wildbahn begegnet sind, war es gut, dass ich dort war. Ein Highlight war für mich als Geologie-Fan Locknekratern in Ängsta.
Eine Gegend genau nach meinem Geschmack: nicht spektakulär, sondern eher ruhig, dafür mit vielen Überraschungen.
Tagebuch:
Diesmal sitze ich nicht am Ufer eines Sees, sondern bin auf einem Campingplatz mit grandioser Aussicht auf einen See. Der Storsjön ist es, dessen Ungeheuer mit dem von Loch Ness verwandt sein soll. Es wurde allerdings im 18. Jahrhundert das letzte Mal gesichtet.
Jetzt brauchen sie das Ungeheuer nicht mehr, denn jetzt haben sie mich. Vorübergehend zumindest. Für drei Tage.
Ich mache gerade Urlaub vom Urlaub. Mehr Entspannung geht fast nicht mehr. Das Leben kann so leicht und einfach sein!
Bei all dem fühle ich große Dankbarkeit. Während in Europa ein Krieg tobt, Menschen sterben, das Klima sich so stark verändert, dass die Menschheit demnächst in ein völlig neues Zeitalter fallen wird, während all das passiert, gondle ich durch Skandinavien und lasse es mir so gut gehen, dass ich heulen könnte vor Freude. Ich erfülle mir einen Traum.
Den Satz „Das ist immer mein Traum gewesen“ habe ich oft gehört, seit ich Annie Way voriges Jahr bestellt habe. Interessant, wie viele Menschen davon träumen, für einige Zeit alles hinter sich zu lassen, sich und ihr Dasein auf das Wesentliche zu reduzieren und sich die Welt anzusehen, immer der Nase nach, ohne planen zu müssen. Interessant auch die Gründe, warum sie es nicht tun.
Ganz so planlos geht es in Wirklichkeit übrigens nicht, wenn man, wie Meinereine, gerne eine warme Dusche und WLAN hat. Dann muss man zumindest während der Sommerferien die Campingplätze reservieren. Das wiederum ist nicht schwierig, man schaut auf Google Maps oder bei diversen Apps nach, ruft an oder bucht online, und schon weiß man, wo man demnächst die Nacht verbringen wird. Samt Strom, Dusche und WLAN. Irgendwann werde ich vielleicht so weit sein, um darauf auch verzichten zu können – wenn ich mich so weit bringe, den Boiler einzuschalten, bei dem ich mich nicht auskenne, auch nicht, nachdem ich die Beschreibung zum gefühlten 27. Mal gelesen habe. Aber jetzt habe ich selbst noch kein Warmwasser.
Es ist ja schon eine Überwindung, das Gas aufzudrehen, um Kaffee zu machen oder zu kochen. Das schaffe ich, drehe allerdings anschließend sofort wieder ab, auch das Sicherheitsventil. Bei Gas hört sich der Spaß auf. Und im Herbst bekommt Annie Way eine fixe Solaranlage aufs Dach geschraubt. Und irgendwas fürs Internet in entlegenen Gegenden. Dann werden wir so richtig unabhängig sein. Und trotzdem auf Campingplätzen schlafen. Der Unterschied wird nur sein, dass wir das dann nicht mehr müssen, aber wir können es immer noch tun.
Zurück zu den Leuten, die sagen, das sei immer ihr Traum gewesen. Gerade heute sagte das wieder jemand, nachdem er Annie Way bewundert hatte. Ein emeritierter Professor für Raumfahrtstechnik an irgendeiner schwedischen Universität, der zufällig auch Geologie studiert hat und jetzt ehrenamtlich für das Meteoritenzentrum in Ängsta bei Östersund arbeitet. Wir unterhielten uns lang über den riesigen Zwillingsmeteoriten, der vor 458 Millionen Jahren in der südlichen Hemisphäre in ein 500 m tiefes Meer bei Pangea krachte. Hätte es damals schon Leben an Land gegeben, wäre es dadurch wieder mal ausgelöscht worden. Auf jeden Fall befindet sich der Teil des Meeresgrunds, der durch den Einschlag ziemlich durchgeschüttelt wurde, jetzt in Schweden in diesem besagten Ängsta.
Angesichts meiner Fragen bekam der Raumfahrtstechniker schnell mit, dass ich von Geologie, Paläontologie und Paläoklimatologie durchaus ein bisschen Ahnung habe, und schon waren wir in ein Gespräch vertieft. Als ich endlich ging, zeigte er mir vor dem Museum noch eine Mauer mit Steinen aus ganz Schweden, und dann sah er Annie Way. „Something like this has always been my dream”, sagte er. Aber die ehrenamtliche Arbeit bei Locknekratern sei auch wichtig.
Anschließend war Annie Way durstig, und der Literpreis für Diesel lag bei 23 Kronen. (Zehn Kronen entsprechen einem Euro.) 63,3 Liter schluckte sie in ihren 90-Liter-Tank. Ich suchte danach verzweifelt den Autoschlüssel (er war nicht in meiner Hosentasche!), dabei hing er noch am Tankschloss. Annie Way hat ein Tankschloss. Warum auch immer.
Dass ich vor lauter Gerede über den Meteoriten vergessen hatte, Fotos zu machen, fiel mir erst später auf. Aber ein Zwillingsmeteorit, der … nein, ich höre schon auf. Interessiert sowieso niemanden. Für mich ist das eine Sensation. Und ich war dort. Wo die Einschlagstelle jetzt zu finden ist. Egal, dass ich keine Fotos habe. Man sieht sowieso nichts, keinen Krater oder so, ist ja viel zu lange her und zu viel passiert in den letzten 458 Millionen Jahren.
Zum Glück habe ich vom heutigen Vormittag dafür umso mehr. Fotos, meine ich. Da war ich nämlich im Moose Garden.
Vor vielen Jahren nahm ein Bauer aus der Gegend von Östersund zwei junge Elche auf, deren Mutter von einem Auto überfahren worden war. Da kam ihm die Idee, eine Elchfarm zu gründen. Vor einiger Zeit übernahm sein Sohn den Hof. Er bezeichnet seinen Vater als verrückt. Der untersuchte nämlich die Elchausscheidungen, weil es ihn wunderte, dass die überhaupt nicht stinken. Zur Freude der Familie machte er das in der Küche und verwendete den Küchenmixer dafür. Er stellte fest, dass es sich um reine Zellulose handelt, die noch dazu völlig steril ist. Daraus erzeugte er schließlich Papier. Die Elchmilch wird zu Käse verarbeitet – dem teuersten Käse der Welt.
Heute besuchen viele Leute den Moose Garden zu den täglichen Führungen im Sommer. Und lassen sich die Geschichte erzählen und sich schließlich zu den Elchen führen. Die leben in einem riesigen Gehege – Platz ist in Schweden ja genug vorhanden -, und für ein paar Kübel Kartoffeln kommen sie zur Futterstelle und lassen sich fotografieren. Oder, um es anders auszudrücken, sie fressen, und es ist ihnen komplett egal, dass sie dabei fotografiert werden.
Die Schwierigkeit für mich bestand darin, ein paar Fotos und Videos zu produzieren, die so aussahen, als würden die Tiere in freier Wildbahn leben und zufällig in meiner Nähe sein. Ist mir gelungen. Habe ich an einige meiner WhatsApp-Kontakte geschickt, alle waren hingerissen. Vor allem von dem Elchbaby mit der Mama. Obwohl das so aussah, als hätte es sich noch nicht entschieden, ob es nicht doch ein Pferd werden wollte. Tierbabys ziehen immer. In Wirklichkeit waren da Maschengitter bzw. bei den Futtertrögen Holzstangen. Trotzdem: beeindruckend, diese Tiere. Mittlerweile gibt es mehrere Elche und Elchinnen im Moose Garden, und man kann auch eine Hütte dort mieten. Mit traumhafter Aussicht auf den nächsten See, der durch Zufall immer noch der Storsjön ist, dessen Ungeheuer noch immer nicht bewiesen ist. Trotz meiner Anwesenheit.
Wieso kann ich mir den Namen Storsjön nicht merken? Frösön, wo der Campingplatz liegt, geht ja auch. Allerdings, bei Östersund passierte mir gestern ein Versehen, da habe ich vor lauter ü und ö und ä im Schwedischen dann Ostersünd geschrieben.
Insgesamt war heute ein fauler Tag. Nicht einmal einen Abendspaziergang habe ich gemacht. Dabei wäre es noch möglich. Die Sonne geht erst um 21:44 unter. Um 4:29 ist sie aufgegangen.
Dafür bin ich gestern gewandert. Da wurde mir nach meiner Ankunft hier nämlich klar, dass eine Kirche in der Nähe liegt, die auf einer alten Kultstätte gebaut ist. Und dass ein Pilgerweg hinführt, dem Heiligen Olav geweiht. Dieser Weg führt von der schwedischen Küste in Ost-West-Richtung bis zur norwegischen Küste.
Als mir in den Sinn kam, dass ich auf einem uralten Weg in Nord-Süd-Richtung unterwegs bin und sich die Inlandsvägen und der Pilgerweg genau in Östersund kreuzen, musste ich diesen Pfad ein Stück gehen.
Die Kirche ist romanisch und liegt am höchsten Punkt mit der schönsten Aussicht überhaupt. Was für ein Kraftplatz!
Dann hatte ich noch Lust, zum Frösön-Strand hinunterzugehen. Das entpuppte sich als ein etwas längeres Unterfangen. So bin ich gestern nicht nur 330 km gefahren, sondern auch 12,5 km gewandert. Das reicht für zwei Tage. Also faulenze ich jetzt, liege gemütlich auf dem Bett und schreibe, was mir so einfällt.
Noch etwas haben Annie Way und ich heute erstmals gemacht: Sie steht auf zwei Auffahrrampen, weil das Gelände leicht abschüssig ist. Hat ein wenig gedauert, bis wir das geschafft haben, weil Annie Way zwar einen Extraspiegel für den toten Winkel hat, doch so genau sieht man das dann auch nicht, was sich bei den Reifen abspielt. Aber wir haben es geschafft.
Das ist schon ziemlich etabliert. Demnächst fahren wir womöglich noch die Markise aus, statt uns irgendwo einen Schattenplatz zu suchen. Wobei ich heute mit Jeans und Jacke in der Sonne gesessen bin, während zu Hause eine Hitzewelle die Menschen zum Verzweifeln bringt. Da wir nach Norden unterwegs sind, Annie Way und ich, und demnächst den Polarkreis überqueren werden, kann es durchaus sein, dass wir für den Rest unseres Urlaubs ohne Markise auskommen. Irgendwie ist eine Markise genauso pfui fürs Vanlife wie ein – pfui! – Wohnmobil. Finde ich zumindest.