Sonntag, 14. August 2022: Longfjordbotn
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Info:
Bei Longfjordbotn handelt es sich um einen Ort am Ende des Longfjords, eines schmalen Seitenarms des Altafjords, etwa 300 km südwestlich des Nordkaps.
Etwas über 100 Menschen leben hier. Im Sommer bietet die Gegend Stille und ein wunderbares Wandergebiet. Im Winter lockt der viele Schnee die Menschen aus Alta zum Wintersport.
Meine Meinung:
Wer durch den Wind ist und sich erholen will, wird keinen besseren Ort finden. Etwas weiter südlich beginnt die Landschaft spektakulär zu werden und den Bildern zu entsprechen, die man von Norwegen kennt. Aber ich erinnere mich gern an die Tage in Longfjordbotn, wo alles so friedlich ist und ich mich so wohlgefühlt habe.
Tagebuch:
Erst in den Morgenstunden legten sich die Böen auf der Nordkap-Insel, und ein regelmäßiger Sturm schüttelte uns nicht mehr so stark durch.
Tatsächlich hörte es auch zu regnen auf. Aber als ich aufstand und duschen ging, war es so kalt und windig, dass ich beschloss: Es reicht. Ich scheitere. Zehn Kilometer vor dem Nordkap drehe ich um. Ich fahre zurück. Wenn mir das Nordkap einen derartigen Wind entgegenschickt, dann wird es ohne mich auskommen müssen. Oder, um es anders auszudrücken: Das Nordkap kann mich mal.
Die Frage, wie jemand zehn Kilometer vor dem Nordkap umdrehen kann, musste ich seither mehrmals beantworten. Die Antwort ist ganz einfach: Ich hatte Angst. Und wenn ich Angst habe, kehre ich um. Punkt. Daran ist nicht zu rütteln, nicht einmal von einem Orkan, der nachgelassen hat.
Ich meine, es ist ja nicht so, dass Angst etwas ist, das mich aus der Bahn wirft. Im Gegenteil. Einer der Sprüche, die mich motiviert haben, mein Haus zu verlassen, Annie Way zu kaufen und das Weite zu suchen, war: „Wenn es dir Angst macht, könnte es einen Versuch wert sein.“ Mir macht vieles Angst. Und deshalb ist vieles einen Versuch wert. Das heißt, ich bin in Wirklichkeit feige. Ziemlich sogar. Deshalb immer ein Campingplatz. Deshalb ein neuer Campervan, damit ja alles passt. Ich mache oft wilde Sachen, aber immer mit Sicherheitsnetz. Ich habe mich sogar beim ÖAMTC angemeldet, erstmals im Leben. Frau weiß ja nie, was so passieren kann.
Deshalb: Ich war nicht am Nordkap. Ich war auf der Nordkap-Insel in Skarsvag, zehn Kilometer vor dem Nordkap. Und dann habe ich umgedreht.
Mir ist da nämlich in der Nacht, als der Sturm an Annie Way rüttelte, etwas klar geworden. Wenn bei einer Sache der Widerstand so groß ist – und einen Orkan kann man durchaus als heftigen Widerstand bezeichnen -, dann sollte ich das als Warnung verstehen. Und Warnungen darf man ernst nehmen.
Ich erinnerte mich an ein Erlebnis in Chichicastenango in Guatemala. Ich war mit einer Freundin auf dem berühmten Markt und wollte anschließend noch den Friedhof besuchen, der ebenfalls ein Fixpunkt für Touristen und Touristinnen ist. Dort sind die Toten zu Hause, im wahrsten Sinne des Wortes, man baut ihnen kleine Häuser.
Als wir in die Straße einbogen, die zum Friedhof führte, wurde es plötzlich ruhig. Die Menschen verschwanden in ihre Häuser. Wo sich gerade noch das bunte Leben abgespielt hatte, herrschte Stille.
Und dann war da diese Gestalt im Fenster. Ich bemerkte noch, wie sie eine abwehrende Handbewegung machte und den Kopf schüttelte. Meine Freundin und ich sahen uns an und machten beide am Absatz kehrt.
Am Abend erfuhren wir, dass ein britisches Ehepaar, das im selben Hotel wohnte wie wir und das wir beim Frühstück kennen gelernt hatten, auf dem Friedhof überfallen und schwer verletzt worden war. Beide befanden sich im Spital.
Wir hatten ein Kopfschütteln ernst genommen und uns dadurch gerettet. Wie sollte ich da einen Orkan nicht ernst nehmen?
Also war ich nicht am Nordkap. Sondern nur auf der Nordkap-Insel. Zehn Kilometer vor dem Nordkap.
Jede Menge Rentiere sahen uns bei unserer Flucht zu. Einmal musste ich stehen bleiben, weil gerade fünf Tiere die Straße überquerten. Langsam, ohne Hektik, frei von jeglichem Respekt gegenüber den Fahrzeugen, deren Insassinnen und Insassen ganz einfach zu warten hatten. Überraschend, wie viele weiße Rentiere es gibt! Am besten gefallen mir die silbergrauen. Norwegens Rentier-Population ist deswegen so gesund, weil jedes Jahr 25 – 33 Prozent der Tiere erlegt werden. Unterschiedliche Quellen nennen unterschiedliche Prozentsätze, aber zwischen einem Viertel und einem Drittel ist schon sehr viel. Rentierfleisch gilt als Delikatesse. Wir fuhren durch den Regen nach Süden und achteten darauf, den Tieren auszuweichen.
Kaum waren wir durch den Tunnel durch – steil bergab, dann ein paar Kilometer unter dem Meer gerade und dann wieder steil bergauf -, hörte der Sturm auf, die Sonne schien, und ich genoss diese gewaltige Landschaft umso mehr.
Es fjordete ziemlich, und entsprechend viele Tunnel gab es auch. Vor einem stand ein Schild mit dem Hinweis, man möge auf die Rentiere im Tunnel achten. Also achtete ich. Aber: Keine Rentiere im Tunnel. Als wir rauskamen, war ich ein wenig abgelenkt von dem Anblick des nächsten Fjords mit einigen Inseln, als Annie Way plötzlich eine Notbremsung hinlegte.
Das Rentier, ein wunderschönes silbernes, stand nämlich nicht im Tunnel, sondern davor beziehungsweise aus unserer Sicht direkt dahinter. Es bequemte sich nicht einmal, die Straße zu verlassen. Wir mussten drum herumfahren.
Ich erzählte das am Telefon einem Freund, aber er meinte, dass Annie Way gebremst haben soll, müssten wir diskutieren. Okay. Aber ich war es nicht. Und da ich Annie Ways Betriebsanleitung mehrmals gelesen habe, weiß ich, dass sie keine Abstandskontrolle und kein Notbremssystem – oder wie auch immer das heißt – eingebaut hat. Also muss sie es gewesen sein, die gebremst hat. Sie persönlich. Und das Rentier hat noch gelebt, als wir es umkreist und verlassen haben. Vielleicht gegen seinen Willen. Vielleicht wollte es überfahren werden. Aber das ist nicht mein Problem.
Wir fuhren wieder an Alta vorbei, und eigentlich wäre die Stadt einen Stopp wert gewesen und auch das Museum hätte mich durchaus interessiert, aber mir war einfach nur mehr nach Ausrasten.
Das kann man am besten am A der Welt oder in Norwegen am Ende eines Fjords. In diesem Fall am Longfjord in einem Ort namens Longfjordbotn mit einem Campingplatz. Also wieder mal die schönste Lage, die man sich vorstellen kann.
Der junge Mann, der sich freute, als ich gleich für zwei Nächte bezahlte, wunderte sich ein bisschen, als ich meinte, dass es hier so schön sei. Da gäbe es noch ganz andere Plätze in Norwegen. Ich bekam den Eindruck, dass er dieses Longfjordbotn, das für Annie Way und mich zwei Tage lang Zuflucht und Ruhe nach dem Sturm sein sollte, nicht nur als das Ende des Fjords, sondern tatsächlich als das Ende der Welt betrachtete und gar nicht hier sein wollte. Immerhin machte er mich auf die Galerie aufmerksam, die zum Campingplatz gehörte. Mit vielen Sami-Sachen, meinte er. Auf meine Frage „Are you Sami?“ errötete er fast und bejahte.
Die Galerie erwies sich als das verlassene, aber unveränderte Haus seiner Großmutter. Aus irgendeinem Grund habe ich noch niemandem von einem Sami-Großvater reden hören. Es sind die Großmütter, die in Kautokeino und in Longfjordsbotn die Campingplätze gründeten. Immerhin, Bilder an den Wänden von Männern bei der Jagd. Und einer Frau, die mit einer alten Singer Nähmaschine in Sami-Tracht auf einer Wiese sitzt und arbeitet. Die Nähmaschine stand im Original neben dem Bild. Puppen mit Sami-Kleidung. Zehntausende Bücher, keine Ahnung, in welcher Sprache. Tausende Langspielplatten mit Plattenspielern aus allen Zeiten in allen Ausführungen. Alte Harmonien und ein Klavier. Werkzeug, Geschirr – einfach alles, was man sich vorstellen kann.
So ein bisschen war dieses Haus auch eine Rückschau auf die eigene Geschichte. Ja, unser erster Plattenspieler sah genauso aus wie der älteste hier. Und der zweite hatte ebenfalls einen Verwandten in diesem Sami-Haus.
Am nächsten Morgen fragte ich den jungen Mann, ob er nicht gerne hier wäre. Er meinte, er liebte es hier, aber er lebte jetzt in Alta. Denn mit 16 musste er sowieso dort in die Schule gehen, und Arbeit gäbe es für ihn auch nur in der Stadt. Oft kam er am Wochenende her, und vor allem im Winter verbrachte er jede freie Minute hier. Im Winter kämen alle jungen Leute zurück, meinte er. Da kann man so viel machen. Sie haben immer fünf bis sechs Meter Schnee.
Ich schlenderte den Fjord entlang und genoss wieder mal die Schönheit der Landschaft. Die Berge, die gar nicht so hoch waren, und auf denen trotzdem Schnee zu sehen war. Aber kein Wunder. Wenn es jeden Winter fünf bis sechs Meter Schnee zusätzlich gibt, dann darf im Sommer schon noch ein bisschen was draufliegen, das die Bäche in unzähligen Wasserfällen Richtung Meer fließen lässt.
An diesem Abend wurde mir klar, dass auch am Ende eines Fjords Ebbe herrschen kann. Und dann stinkt es ein bisschen und ist nur mehr halb so schön.
Aber immer noch schön.
Der nächste Tag war ein Faultag. Da spür ich immer das Tier in mir. Es ist ein Faultier. So wie Sally the Sloth, die am Sicherheitsgurt bei Annie Ways Sitzbank hängt und fröhlich in die Gegend schaut. Ein Stück von ihr entfernt sitzt Leona Löwenfeld, eine kleine Löwin, die ich von einer Kollegin geschenkt bekommen habe und die mir Mut machen soll. Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob Leona Sally fressen würde, aber sie hat diesbezüglich offensichtlich kein Interesse. Deshalb darf sie neuerdings oben auf der Lehne der Sitzbank sitzen, zwischen den beiden Kopfstützen und in einigem Abstand von Sally. Dort hat Leona Löwenfeld eine gute Aussicht, und Sally the Sloth ist trotzdem sicher vor ihr. Das mit dem Mut-Machen nimmt Leona sehr ernst.
Ich wanderte in ein Tal hinein, das als Bogdalveien beschildert war. Trotzdem war es in Summe ein fauler Tag.
Und in der Nacht war es saukalt.
Ich buchte eine Walsafari in Andenes. Und damit war es klar, dass ich mich auf die Socken bzw. auf Annie Ways Räder machen musste.