Dienstag, 30. August 2022: Dovrefjell, Lom und Geiranger
Info:
Fährt man auf der E 6 von Oppdal nach Süden Richtung Dombas, kommt man zum Nationalpark Dovrefjell Sunndalsfjella. Neben Rentieren, Elchen, Polarfüchsen, Vielfraßen und vielen Vogelarten leben hier noch Moschusochsen in freier Wildbahn.
Von der Stadt Otta geht es nach Westen das Otta-Tal entlang. Die Stabkirche von Lom stammt aus dem 12. Jahrhundert.
Und dann geht es plötzlich bergauf zu einer Höhe von 800 m über dem Meer, wo man, umringt von hohen Bergen, am Anfang der Trollstigen ankommt. Diese Straße führt in vielen Haarnadelkurven hinunter zum Geirangerfjord.
Video:
Meine Meinung:
Sollte ich noch einmal nach Norwegen kommen, nehme ich mir für den Nationalpark Dovrefjell auf jeden Fall mehrere Tage Zeit und mache eine geführte Tour mit, bei der man bessere Chancen hat, Moschusochsen beobachten zu können. Hier ist der Himmel einfach zum Greifen nah.
Die Fahrt durch das Otta-Tal mit seinem türkisen Fluss ist unglaublich schön.
Auch die Stabkirche von Lom ist einen Besuch wert.
Und dann die Fahrt über die Trollstigen … man sollte sie möglichst von oben nach unten fahren, weil man so die schönste Aussicht hat. Nicht in Worte zu fassen.
Tagebuch:
Es gibt Momente im Leben, an die man sich erinnert, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeprägt haben. Wir wissen alle, was wir gerade gemacht haben, als wir erfuhren, dass das World Trade Center eingestürzt ist. Als die Berliner Mauer fiel. Die Älteren von uns wissen noch, was sie gemacht haben, als die Nachricht kam, dass John Lennon erschossen wurde. Die ganz Alten inklusive mir erinnern sich an die erste Mondlandung.
Und dann gibt es die persönlichen Momente. Mein Sohn, als er geboren wurde. Tausende Erinnerungen, als er noch klein war und wie er heranwuchs. Das Strahlen in seinen Augen, wenn ich ihn in den Arm nahm. Ich hatte ihn fast ständig im Arm, weil mich dieses Strahlen durchs Leben trug. Solche Erinnerungen machen glücklich.
Zeit mit meinen Freundinnen und Freunden, mit Menschen, die ich liebe, die mir wichtig sind – all das wird zu Erinnerungen.
Aber auch das sanfte Türkis und Lila der leisen Wellen der Karibik, wenn sie in Jamaika im Sand ausrollen. Und der kleine Stachelrochen. Die Erinnerung ans Schwimmen bei einem Dschungelcamp in einem Seitenarm eines Seitenarms eines Seitenarms des Rio Negro, wo jedes Mal Süßwasserdelfine auftauchten, wenn ich ins Wasser ging. Ist es wichtig, das erlebt zu haben? Nein, ist es nicht, es gibt Wichtigeres. Denn Erinnerungen kann man nicht in den Arm nehmen. Aber allein der Gedanke daran macht mich glücklich.
Das fast tägliche gemeinsame Frühstück mit Kolleginnen und Kollegen, die mit der Zeit zu Freundinnen und Freunden wurden. Die Menschen vom Literaturkreis.
Was wir tun, wie wir unser Leben gestalten, das bestimmt die Qualität unserer Erinnerungen. Ich habe sehr viele unglaublich schöne und glückliche Momente erlebt, die zusammen ein Netz ergeben, das Gewebe meines Lebens. Diese Erinnerungen gilt es wie einen Schatz zu hüten, denn sie sind unter anderem das, was mich ausmacht. Und auch das, was mich trägt.
Das Auftauchen der fünf Pottwale ist etwas, das zu diesen Erinnerungen gehört. Nicht wichtig an sich, aber der Gedanke daran wird mich auch in Zukunft den Moment fühlen lassen.
So sammle ich Erinnerungen. Wichtige und unwichtige. Nach dem Motto: Sammle Momente, nicht Dinge.
Eine dieser Erinnerungen wird eine Landschaft sein.
Ich fuhr an jenem Tag, es war der 37. meiner Reise, von dem Campingplatz in der Nähe von Oppdal weg. Anfangs ging es durch ein so enges Tal, dass gerade Platz war für den Fluss und die Straße, die zum Teil bewaldeten Hänge ragten einige hundert Meter in die Höhe.
Und dann änderte sich die Landschaft plötzlich. Eine Hochebene. In der Ferne waren schneebedeckte Berge zu sehen. Das Land war wieder moorig mit blühendem Heidekraut und jeder Menge Heidelbeeren und Preiselbeeren, dazu Gestrüpp, keine Bäume – eine fast unwirkliche Hochlandschaft mit einem Licht, das nicht zu beschreiben ist. Ich blieb mehrmals stehen, einfach nur um zu schauen. Es war keine spektakuläre Landschaft, aber diese Weite, die Schönheit der Pflanzen, der Himmel, der zum Greifen nah schien … fast war mir zum Heulen.
Das ist die Gegend der Moschusochsen. Hier lebt noch eine Herde Moschusochsen in Freiheit in ihrer natürlichen Umgebung. Das Gebiet heißt Dovrefjell und wurde 2005 zum Nationalpark erklärt.
Mein Wanderherz jubelte, und ich beschloss, bei der nächsten Gelegenheit stehen zu bleiben und ein Stück zu gehen.
Als ich einen Rastplatz fand, wo ich parken konnte, stieg ich aus und … „Nein, das gibt’s ja nicht!“ Eine Frau aus Deutschland, die ich auf dem Campingplatz in der Nähe von Inderoy kennen gelernt hatte, fiel mir um den Hals. Sie hatte die Nacht hier verbracht und am Abend und gleich nach Sonnenaufgang mit dem Fernglas geschaut, ob sie einen Moschusochsen entdecken konnte. Auch sie war hingerissen von dieser Landschaft. Wir unterhielten uns eine Weile, dann wünschten wir uns gegenseitig eine gute Reise, viele schöne Erlebnisse und eine sichere Heimkehr, und ich ging ein Stück eine kleine Anhöhe hinauf, um die Gegend noch ein wenig zu genießen.
Nichts Spektakuläres, wie gesagt, aber ein Moment, wo der Himmel so nah war, dass er mich berührte.
Ich wusste, dass man Wanderungen zu den Weidegründen der Moschusochsen buchen konnte, und sah im nächsten größeren Ort, in Dombas, auch ein Plakat. Bei der angegebenen Telefonnummer rief ich an, um zu fragen, ob ich am nächsten Tag so eine Wanderung machen könnte. Die Auskunft, die ich erhielt, war, ich sollte im Internet nachsehen. Das wäre aber erst am Abend auf dem Campingplatz möglich gewesen, von dem ich noch nicht wusste, wo er sein würde, also beschloss ich, es bleiben zu lassen. Ich überlegte noch kurz, als ich beim nächsten und übernächsten Campingplatz vorbeifuhr, ob ich hierbleiben sollte, entschied mich dann aber dagegen.
Annie Way und ich fuhren das Gudbrandsdal entlang, das bis nach Lillehammer führt. Bei Otta bogen wir ab nach Westen ins Ottadal, entlang eines Flusses, der in einem intensiven Türkis durch das Tal fließt und sich häufig zu Seen weitet. Ich hatte zeitweise das Gefühl, in Kärnten oder im Salzkammergut zu sein.
In Lom stand da plötzlich eine Stabkirche, und mein kunstgeschichtliches Herz machte einen Luftsprung. Annie Way und ich hatten die Einfahrt zum Parkplatz versäumt und mussten umdrehen, aber der Besuch lohnte sich. Ich verweilte geraume Zeit im Inneren des Holzbaus aus dem elften Jahrhundert.
Wir folgten weiter dem türkisen Fluss nach Westen, und ich war schon am Überlegen, ob es für diesen Tag nicht reichte und ich bei einem der Campingplätze Halt machen sollte.
Doch dann kam das Straßenschild, auf dem stand, dass wir jetzt eine Passstraße fahren würden. Überrascht vom plötzlichen Anstieg schaltete ich einen Gang zurück, und Annie Way bewies, dass sie inzwischen perfekt fahren kann. Schließlich bin ich Österreicherin. Alpenpässe sind die leichteste Übung, steile Kurven, Kehren, Engstellen – damit bin ich aufgewachsen. Meine Eltern waren mit mir den Loiblpass gefahren, als eine Schotterstraße steil nach oben führte und es noch keinen Tunnel gab. Cruise Control ausgeschaltet, den Schalthebel in der Hand, die Füße auf den Pedalen – Schluss mit gemütlich, nun wurde gefahren, richtig gefahren, und es machte Spaß!
Annie Way schnurrte genüsslich, und wir ließen auf der Bergstraße so manchen schnellen Fahrer hinter uns.
Wir können also Bergfahren. So richtig gut. Und das brauchten wir auch. Die Gegend wurde immer gebirgiger, selbstverständlich war dort oben dann kein Campingplatz mehr, obwohl ich langsam müde wurde. Um etwa halb fünf, also zu einem Zeitpunkt, wo wir sonst schon stundenlang gemütlich irgendwo herumsaßen bzw. -standen, tauchte vor uns der Wegweiser „Geiranger“ auf, und auf einem Stück Holz war eingeschnitzt „Trollstigen“.
Aha. Hier waren sie also, die Trollstigen, von denen mir das Ehepaar in Deutschland gesagt hatte, ich solle sie hinunter und nicht hinauffahren, weil das viel schöner sei. Nachdem Annie Way und ich inzwischen auf über 800 Höhenmeter hinaufgeklettert waren, würde es nun steil nach unten gehen, und zwar in elf Haarnadelkurven bei etwa zwölf Prozent Gefälle. Und besonders breit war die Straße an manchen Stellen auch nicht wirklich. Um genau zu sein, gelegentlich war sie einspurig.
Die Aussicht war atemberaubend, denn die Leiter der Trolle, was Trollstigen auf Deutsch bedeutet, ist von drei hohen Bergen eingerahmt und führt außerdem über einen Wasserfall. Ich war gespannt auf den ersten Blick auf den Geirangerfjord, doch der ließ geraume Zeit auf sich warten.
Wie gesagt, ich fahre gern Bergstraßen, und Annie Way offensichtlich auch. Das Gefälle bewältigten wir mühelos mit Motorbremse und gelegentlichem Bremseinsatz meinerseits. Da es trotz allem sehr anstrengend war, Annie Way in den steilen Kurven zu lenken – und da rede ich noch nicht von den Kehren -, blieben wir öfter stehen, und ich betrachtete begeistert die Umgebung. Die Trolle hatten wieder mal ganze Arbeit geleistet, fast noch beeindruckender als im Trollfjord auf den Lofoten.
Und dann tauchte er plötzlich vor uns auf, der Geirangerfjord. Wir blieben stehen, denn ich musste den Anblick erst – ja, verkraften, so überwältigend war das. Außerdem waren wir schon ziemlich nah an unserem Ziel, hatten also den größten Teil der Trollstigen unbeschadet hinter uns gebracht. Ein Blick auf den Campingplatz in Geiranger bestätigte, dass er fast leer war, wir brauchten uns also nicht zu beeilen. Denn das letzte Stück hatte es noch in sich mit steilen Stellen, engen Kehren und entgegenkommenden Reisebussen, die auf kleine Vans keine Rücksicht nahmen.
Bald standen wir in Geiranger am Fjord. Ich war müde und hungrig, machte aber nach dem Essen noch einen kurzen Spaziergang, um den Ort zu erkunden. Außerdem ging ich die Treppe den Wasserfall hinauf, der sich von einem der Berge herunterstürzte und dessen Flussmündung in den Fjord den Campingplatz in zwei Teile spaltete. Nach hundert Stufen hatte ich aber genug und kehrte wieder um. Der Tag war anstrengend genug gewesen, es reichte.
Was war das Besondere an diesem Tag? Was davon wird es zu den Momenten schaffen, die mich glücklich machen, wenn ich mich daran erinnere?
Die Landschaft der Gebirgsregion Dovrefjell auf jeden Fall. Die Weite mit dem Heidekraut, den fernen Bergen und dem Himmel, der zum Greifen nahe war.
Der türkise Fluss und die Stabkirche von Lom.
Das Gefühl beim Hinunterfahren auf den Trollstigen – der Fahrspaß zusammen mit der ständigen Anspannung, ob alles gut gehen würde.
Der Anblick des Geirangerfjords von den Trollstigen aus.
Und das Gefühl, es geschafft zu haben. Sicher am Fjord angekommen zu sein.
Was für ein Tag!
Nachdem die Trollstigen doch etwas anstrengend gewesen waren und der Geirangerfjord zu den besonderen Besonderheiten in dem von Besonderheiten ohnehin heimgesuchten Norwegen gehört, beschloss ich, einen Faultag einzulegen und den Fjord so richtig zu genießen. Deshalb ging ich am nächsten Morgen zum Ticketoffice bei der Schiffsanlegestelle und buchte für denselben Tag eine Rundfahrt auf dem Fjord und für den nächsten die Fähre nach Hellesylt.
Bei der Rundfahrt gab es kleine Geräte mit Kopfhörern, wodurch man viele Informationen bekam über den Fjord, aber auch über die Menschen, die früher in den Bergbauernhöfen gelebt haben. Die Böden auf den steilen Hängen sind sehr fruchtbar, sodass Obstbau und Viehzucht möglich waren. Alle diese Höfe sind seit mindestens fünfzig Jahren verlassen. Durch die Lage an den Klippen stürzten immer wieder Menschen ab. Es wurde berichtet, dass die Kinder oft mit Seilen angebunden wurden, damit sie nicht versehentlich über die Felskante liefen.
Aber auch von einer Heldin wurde erzählt. Als während eines Schneesturms im Dezember bei einer Frau auf einem Bergbauernhof die Wehen einsetzten, ruderte die damals 77-jährige Hebamme mit einem Boot zum Steg und stieg den vereisten, steilen Pfad bis auf 300 m Höhe hinauf, wo sich das Bauernhaus befand. Nachdem sie geholfen hatte, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, rastete sie kurz, aß etwas, und obwohl man sie einlud, das Ende des Schneesturms in der warmen Stube abzuwarten, stieg sie den eisigen Steig wieder hinunter, um mit dem Boot zurückzurudern. Schließlich musste sie erreichbar sein, falls noch ein Kind in dieser Nacht zur Welt kommen wollte.
Der besagte Bauernhof ist noch heute zu sehen. Er liegt in der Nähe des Wasserfalls der Sieben Schwestern. Dieser heißt so, weil das Wasser normalerweise in sieben Strömen die Steilwand herunterschießt. Da in den letzten Wintern aber weniger Schnee als sonst fiel – der Klimawandel bringt kältere Winter mit weniger Schnee -, sind derzeit nur drei der Schwestern zu sehen.
Auf der gegenüberliegenden Fjordseite gibt es ebenfalls einen Wasserfall, der Freier heißt. Der Sage nach soll der Freier jeder der sieben Schwestern einen Heiratsantrag gemacht haben, wurde aber von allen zurückgewiesen. Die Schwestern sind bis heute unverheiratet geblieben. Der Freier gab sich dem Alkohol hin – er wird durch einen Felsen in Form einer riesigen Flasche knapp über dem Meeresspiegel in zwei Fälle geteilt.
Da ich Faultag hatte, machte ich nach der Schifffahrt nur eine kurze Wanderung den Fjord entlang. Eine violette Jacke kaufte ich mir noch. Die dritte neue Jacke auf meiner Reise. Aber bei dieser Farbe konnte ich nicht widerstehen.