Mittwoch, 15. Juni 2022: Am Anfang war Annie Way
Hallo allerseits! Mein Name ist Sally. Sally the Sloth. Ja, ich bin ein Faultier.
Ich bin deshalb da, weil die Ursula eines Tages vor längerer Zeit draufgekommen ist, dass sie das Tier in sich spürt. So wie man eben draufkommt: Ich spüre das Tier in mir. Im Fall von der Ursula war das ein Faultier. Ausgerechnet ein Faultier, wo doch die Ursula immer so aktiv ist!
Seither steht die Ursula auf Faultiere. Und deshalb hat sie mich vor kurzem gekauft. Sie hat ein wenig herumüberlegt, wie sie mich nennen soll, aber dann ist sie mit Sally the Sloth dahergekommen. Das passt irgendwie. Ich hatte schon Angst, sie bleibt bei Fanni das Faultier, das war mir nämlich ein wenig zu fad. Ich mag zwar ein Faultier sein, aber ein Fadtier bin ich nicht.
Die Ursula ist über sechzig und hört demnächst mit dem Arbeiten auf. Dann macht sie ein Sabbatical und danach geht sie in Pension. Das ist der Plan. Und dann will sie viel reisen. So nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel, wenn es ein Ziel gibt.
Die Ursula hat vor, dass sie ein Tagebuch schreibt, einen TravelBlog. Damit das Ganze nicht zu einseitig wird, habe ich beschlossen, meine eigenen Kommentare dazu abzugeben. Sally the Sloth packt aus. Ich erzähle dann, wie es wirklich war. Und nicht die geschönte Version, sondern die echte, tatsächlich wahre Wahrheit. Das habe ich vor. Ich bin das Faultier, ich weiß Bescheid.
Heute ist ein besonderer Tag. Der 15. Juni 2022, ein Mittwoch.
Heute hat die Ursula nämlich ihren Campervan abgeholt. Den braucht sie zum Reisen.
Ein Freund hat sie nach Eferding gebracht und hat sich das Ganze angehört. Da war ein sehr freundlicher Techniker, der wollte zuerst ihrem Bekannten alles erklären, aber dann hat die Ursula gesagt, dass ihr der Van gehört und dass sie ihn fahren wird und dass der freundliche Techniker gefälligst ihr das alles so lang erklären soll, bis sie sich auskennt. Gefälligst hat sie nicht gesagt, aber es hat schon sehr bestimmt geklungen.
Der freundliche Techniker hat sofort verstanden und hat sich dann mit seinen Erklärungen an die Ursula gewandt, aber die hat nichts verstanden. Hat man ihr aber nicht angemerkt. Es macht aber nichts, es gibt eh jede Menge Handbücher und Beschreibungen von allem.
Die Ursula hat den freundlichen Techniker dann gefragt, ob er so nett wäre, mit ihr eine Runde zu fahren. Auf dem Gelände des Wohnmobilhändlers selbstverständlich. Noch nicht auf der Straße.
Der freundliche Techniker hat sich, ohne zu murren, aber mit einem etwas eingefrorenen Lächeln, bereiterklärt, auch das über sich ergehen zu lassen. Und die Ursula hat die Annie Way gestartet.
Hab ich schon erwähnt, dass der Van Annie Way heißt?
Es gibt den schönen Spruch: Es ruckelt immer ein wenig, wenn das Leben in den nächsten Gang schaltet. Für die Ursula hat mit der ersten Fahrt mit der Annie Way ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Und deshalb ist sie zuerst fast nicht weggekommen. Aber plötzlich hat die Annie Way einen Sprung nach vorne gemacht, und dann ist sie tatsächlich gefahren. Die Annie Way mit der Ursula. Nicht die Ursula mit der Annie Way. Sie sind etwa zwanzig Meter in die eine Richtung gerollt, dann sind sie abgebogen und wieder zurückgekommen.
Der freundliche Techniker hat der Ursula noch gezeigt, wie der Rückwärtsgang funktioniert. Das ist auch wichtig.
Woher ich das alles weiß? Die Ursula hat mich sofort in den Van gesetzt, noch bevor sie das erste Mal gefahren ist. Mein Job ist es, Maskottchen zu sein. Glücksbringerin. Lucky charm.
Ja, nicht nur auf dem Video von der ersten Fahrt kann man es sehen, dass die Annie Way gehüpft ist, sondern ich kann das bezeugen. Es war so.
Ihr Bekannter ist dann mit seinem Auto nach Hause gefahren, und die Ursula hat noch ein paar Kabel gekauft und ist auch gefahren. 16 war der Kilometerstand von Annie Way zum Zeitpunkt, als sie gestartet ist. Gleich zur nächsten Tankstelle, etwa hundert Meter vom Händler entfernt. Zum Glück war der Randstein, den sie beim Abbiegen mitgenommen hat, nicht hoch. Sie hat es tatsächlich geschafft, nach mehrmaligem Hin und Zurück die Annie Way einigermaßen gerade neben die Zapfsäule zu stellen. Dann ist sie ausgestiegen und hat den Tankdeckel gesucht. Und gefunden.
Als nächstes hat sie gesehen, dass der versperrt ist. Also hat sie versucht, ihn aufzusperren. Das ist ihr nicht gelungen.
Ein bisschen war es ihr schon peinlich, die Dame an der Kassa zu fragen, ob die weiß, wie man bei einem Fiat Ducato den Tankdeckel aufbringt. Die hat es ihr gezeigt und war völlig hingerissen von der Annie Way. „Ist die ganz neu? Gerade geholt vom Händler?“, hat sie bewundernd gesagt. Mich hat sie nicht gesehen, ich war zu diesem Zeitpunkt eher unten platziert. In einem der drei Getränkehalter in Reichweite der Fahrerin. Ich fand das ein wenig demütigend, aber ich wollte mich nicht beschweren, weil die Ursula eindeutig mit der Situation überfordert war. Da will man dann als Faultier auch nicht zicken.
Beim Wegfahren ist der Motor von der Annie Way prompt abgestorben. Die Ursula hat das mit großer Gelassenheit ertragen und neu gestartet. Bis zur Ausfahrt der Tankstelle ist sie gekommen. Als sie dann darauf gewartet hat, sich in den Fließverkehr einzureihen, ist die Annie Way schon wieder abgestorben. Der Motor, meine ich, nicht die Annie Way selbst. Die Annie Way ist ja mehr als nur der Motor. Viel mehr. Sie ist ein wunderschöner Campervan. Hellgrau. Funkelnagelneu. Einfach perfekt.
Irgendwann hat die Annie Way geschnallt, dass es nicht sinnvoll ist, nicht wegzufahren. Sie hat also ihren bereits bekannten Hüpfer gemacht und ist losgerollt. Bis zum Kreisverkehr. Also etwa dreißig Meter. Dort ist der Motor wieder abgestorben. Starten, Hüpfen, Losrollen – es hat geklappt. Wieder den Randstein mitgenommen. Da ist der Ursula klar geworden, dass sie beim Abbiegen weiter ausholen muss. Sie ist ja lernfähig. Manchmal.
Zum Glück war anschließend eine lange Strecke, wo die Ursula nicht stehenbleiben musste, und so ist sie problemlos von Eferding nach Leonding gefahren. Etwas unterhalb der jeweils angegebenen Höchstgeschwindigkeit, aber immerhin, sie sind gefahren, die Annie Way und die Ursula.
Bei ihrem Sohn, der jetzt im Haus wohnt, das bis vor kurzem ihres war, hat die Ursula dann noch ein paar Dinge geholt, die man für ein Vanlife braucht. Geschirr, eine Hängematte und so. Decken. Geschirrtücher. Was sie halt im Lauf der Zeit gesammelt hat. Ein paar Sachen hat sie eh im Keller vergessen, weil sie natürlich ihrem Sohn zuerst die Annie Way zeigen musste. Aber was soll’s?
Danach ist die Annie Way mit der Ursula ins Mühlviertel gefahren, wo sie einen Parkplatz benutzen darf.
Ich bin die ganze Zeit im unteren Getränkehalter gesessen und habe drauf gewartet, dass ich von dort befreit werde. Aber die Ursula hat andere Sorgen gehabt. Und tatsächlich, einmal – ja, es war nur einmal, aber immerhin – ist die Annie Way beim Wegfahren mit dem ersten Gang weder gehüpft noch ist ihr der Motor abgestorben. Da haben wir uns richtig gefreut, die Ursula und ich, und die Ursula hat zu mir gesagt: „Siehst du, Sally, es wird schon.“ Dann hat sie eine Pause gemacht und hinzugefügt: „Irgendwann.“
Kaum hat die Ursula die Annie Way geparkt – das mit dem Rückwärtsgang kann sie schon gut, und nach dem dritten Mal Vor und Zurück ist die Annie Way einigermaßen gerade gestanden -, hat sie einen guten Platz für mich gesucht. Ich habe ohnehin nie daran gezweifelt, dass dies das Erste sein wird, woran sie denkt. Meine Pfoten sind magnetisch, und die Ursula hat herumprobiert, wo ich herumhängen könnte. War gar nicht so einfach, denn die Annie Way ist in ihrem Innenleben nicht wirklich mit Metallteilen gesegnet. Aber schließlich ist die Ursula auf den Sicherheitsgurt bei der Sitzbank beim Esstisch gestoßen, und das ist der optimale Platz für mich. Ich throne jetzt auf der Rückenlehne. Hoch genug oben, dass ich alles beobachten kann, und ich sehe sogar ganz genau, wo wir hinfahren! Gleichzeitig habe ich den gesamten Wohnraum im Blickfeld! So was liebt das Faultier.
Leute, lasst es euch gut gehen. Und lasst in eurem Kopf etwas Platz frei. Für die Flausen und die Abenteuer.
Eure Sally