Donnerstag, 11. Mai 2023 (oder so): Ein Wasserfall, der fröhlichste Verkehrsstau meines Lebens und das Ende der Zeit.
Info:
Die Stadt Quebec ist die Hauptstadt der Provinz Quebec und liegt – wie könnte es anders sein – am St. Lorenz Strom. Etwa 550.000 Menschen leben auf einer Fläche von fast 500 km2. (Wieder der Vergleich zu meiner Heimatstadt Linz: Da leben über 200.000 Menschen auf nicht ganz 100 km2.) Insofern ist alles großzügig angelegt mit viel Grün dazwischen. In der Metropolregion sind es über 800.000 Leute, Tendenz steigend.
Der Platz, wo sich heute Quebec befindet, wurde ursprünglich von zwei jungen Huron-Irokesen gegenüber dem französischen Entdecker Jacques Cartier als „kanata“ bezeichnet, was Dorf oder Siedlung bedeutet. Daher leitet sich der Name Kanada ab. Quebec war 1535 eine der ersten europäischen Siedlungen in Nordamerika. Es ist auch die einzige Stadt nördlich von Mexiko, in der die ursprünglichen Befestigungsanlagen noch vorhanden sind.
Meine Meinung:
Mich hat fasziniert, wie viel Platz in dieser Stadt ist! Und wie unkompliziert Altes und Neues nebeneinander existieren, sich ergänzen und gegenseitig bereichern kann.
Um es salopp auszudrücken: Ich fand die Stadt total cool!
Tagebuch:
Nachdem ich mich vom Meer nicht losreißen hatte können, war ich mit meiner Ankunft am Nachmittag etwas später dran und beschloss, nicht in die Stadt zu fahren, sondern zum Wasserfall. Das war angesichts der Hauptverkehrszeit meines Erachtens eine äußerst kluge Entscheidung. Außen herum um die Stadt und nicht mitten hinein.
Monmorency heißt er, der Wasserfall, und ist mit 83 m um ganze 30 m höher als die Niagara-Fälle. Allerdings ist er viel schlanker. Im Winter friert das Becken unter ihm zu, und es bildet sich ein bis zu 30 m hoher Eishügel, Zuckerhut genannt.
Dort hinzufahren war der Plan. Ursprünglich. Bis ich irgendwie auf einer Baustelle der Autobahn versehentlich auf der falschen Spur landete und Google Maps mich unverdrossen weiterleitete. Mitten ins Stadtzentrum. Mitten in einen Wahnsinnsstau.
Als mir klar wurde, in welcher Lage ich mich befand, war ich knapp davor, meine gute Erziehung zu vergessen und ein paar Wörter in Annie Ways Innenraum zu schleudern, die ich in der Öffentlichkeit nie und nimmer sagen würde. Aber dann sah ich in das fröhliche Gesicht eines Fahrers in einem Auto neben mir. Er grinste, ich grinste. Seine Spur fuhr weiter, meine blieb noch zwei Grünphasen stehen, weil ich immer in der langsameren Spur bin. Egal wo. Eine Frau überholte mich, sah mich an, lächelte. Ich nickte ihr zu. Der Baustellenarbeiter winkte fröhlich. Ich winkte zurück.
Ich verbrachte eine vergnügliche halbe Stunde im Stau in der Innenstadt von Quebec, und es war mit Abstand das angenehmste Verkehrschaos meines Lebens. Keine Hektik, keine Nervosität, sondern die übliche Entspanntheit und Fröhlichkeit. Und ich bekam einen guten Eindruck von der Innenstadt und davon, was ich mir am nächsten Tag ansehen wollte. Vier Grünphasen verbrachte ich bewegungslos vor dem Springbrunnen beim kanadischen Parlament. Da packte ich dann die Kamera aus und machte Fotos.
Das alles hatte den Vorteil, dass ich erst um 17 Uhr beim Wasserfall ankam und nicht mehr für den Parkplatz zahlen musste.
Was sich mir bot, war einfach großartig. Die unglaubliche Wucht, mit der sich die Wassermassen über die Felskante stürzen, kann man ganz von der Nähe erleben, weil eine Hängebrücke genau an der Kante über den Fluss führt.
Bei einer Aussichtsplattform durfte ich dann noch für mehrere Leute Fotos mit ihren Handys machen, weil das sonst übliche Selfie zu wenig von der Umgebung einfing. Aus einer Laune heraus bat ich eine Dame, auch von mir ein Foto zu machen. Normalerweise hasse ich es, fotografiert zu werden. Aber so habe ich wenigstens einen Beweis, dass ich dort war. Manchen Leuten aus dem Freundes- und Freundinnenkreis habe ich es sogar per WhatsApp geschickt. Das hat mehr Mut erfordert, als auf der Hängebrücke zu stehen und in die Tiefe zu schauen.
An diesem Abend blieb meine Uhr stehen. Ich war in Linz noch extra ins Geschäft gegangen und hatte gefragt, wie lang die Batterien normalerweise halten. Zwei Jahre, hieß es. Gut, dann würde ich kein Problem haben.
Ich habe auch so kein Problem. Es ist Zeit für mich, nach dem Kompass zu leben und nicht nach der Uhr. Es ist Zeit für mich, zeitlos zu leben.
Am nächsten Morgen trödelte ich in der neugewonnenen Zeitlosigkeit so lange herum, dass es schon halb zwölf war, als ich endlich aufbrach in Richtung Innenstadt. Ich wollte auf einem der vielen großen Parkplätze stehen bleiben, die sich entlang der Grande Allée E befinden.
Leider übersah ich beim Reinfahren die ersten, und als ich endlich auf Suche ging, waren die zentrumsnahen alle besetzt. Google Maps drehte fast durch mit meiner Sucherei, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich schon ein gutes Gefühl für die Gegend entwickelt und schaltete ab. Ein junger Mann erklärte mir in der Altstadt (!) freundlich das System mit den Kurzparkzonen. Da ich aber nicht wusste, wie lange ich bleiben wollte, fuhr ich wieder raus und fand schließlich noch außerhalb der Abraham-Ebenen einen Parkplatz. Auf die Art und Weise kam ich zu einer netten Wanderung, denn es dauerte eine Weile, bis ich wieder in der Altstadt war.
Mein erster Eindruck vertiefte sich. Viel Platz für Parks, in denen eine Menge Leute ihre Freizeit verbringen, und moderne Architektur neben alten Häusern. Nicht immer wirkt die moderne Architektur charmant, manchmal steht da einfach nur viel Beton in der Gegend herum. Aber von den Bausünden des (hoffentlich) vergangenen Jahrhunderts abgesehen, wirklich schön. Außerhalb der Stadtmauern ist alles auf den Autoverkehr ausgerichtet. Breite Straßen, vier- bis sechsspurig, aber auch Geh- und Radwege. Zebrastreifen ohne Ampel bedeuten hier offensichtlich nicht, dass die Fußgängerin Vorrang hat. Ich hab’s ausprobiert und ein Kopfschütteln geerntet. Okay, wieder was dazugelernt. Es ist ohnehin alle paar Meter eine Ampel, also kein Problem.
Während ich die bunten Häuschen der Altstadt betrachtete, merkte ich gar nicht, wie weit ich schon gekommen war. Der wuchtige Kasten des Hotels Chateau Frontenac lag vor mir – und damit auch der St. Lorenz Strom. Hier ist er wirklich ein Strom. Das lasse ich mir einreden. Aber bei Reviere-du-Loup ist er ein Meer. Ästuar – von wegen!
Da ist sie also, die Wiege Kanadas, wo zuerst die Einheimischen sich ihres Lebens erfreuten und dann die Leute aus Europa kamen und gegen die Einheimischen und danach gegen die anderen Leute aus Europa kämpften, bis die Stärkeren bestimmten, wo es lang geht. Heute versucht man, all das Unrecht, das man den Menschen der First Nation angetan hat, wieder gut zu machen und ihnen die Hand zur Versöhnung zu reichen. In Kanada sprechen sie von First Nation, in den USA von Native Americans, was meines Erachtens schon wieder eine Diskriminierung ist, denn die Vorfahrinnen und Vorfahren dieser Menschen waren schon vor mehr als 15.000 und weniger als 18.000 Jahren (man weiß es nicht genauer) eingewandert, und nicht erst nach dem Columbus-Irrtum von 1492, für den selbiger mit der Entdeckung (!) Amerikas gefeiert wurde und wird.
Irgendwann hatte ich genug von meiner Wanderung durch die Stadt. Wahrscheinlich werde ich im Herbst noch einmal hier vorbeikommen. Jetzt weiß ich ja, wie das so ist mit den Parkplätzen. Und an einem Tag kann man sowieso nicht alles sehen. In meiner Zeitlosigkeit ließ ich mich gemütlich zu Annie Way zurücktreiben, die auf dem Parkplatz in der Sonne stand. Interessanterweise war es nicht heiß in ihr. Aber die Solaranlage hatte ihr Werk vollendet, so viel Strom würde ich gar nicht verbrauchen können, wie mir da angeboten wurde. Der Kühlschrank, die zwei Tablets, die Zahnbürste, die Lampen, der Laptop, das Aufnahmegerät, die Kamera und das Handy sind da sehr bescheiden. Aber sicher ist sicher. Und was ist, wenn die Sonne einmal nicht scheint und ich nicht fahre, dann muss das alles für ein paar Tage reichen. Obwohl ich mittlerweile die Sache mit dem Transformator und dem Adapter, den ich dafür brauche, herausgefunden habe (Es lebe der Walmart! Ich musste nur drei Adapter kaufen, bis ich den richtigen fand.). Ich könnte Annie Way tatsächlich jederzeit auf einem Campingplatz ans amerikanische Stromnetz anhängen, und es würde funktionieren. Ich bin ganz stolz auf mich.
Am Abend nahm ich noch meinen Podcast auf und brauchte eine Weile, bis mir wieder einfiel, wie ich die Audio-Dateien ins Programm bekam. Aber selbst das gelang mir schließlich. Wie gesagt, ich schlittere zwar immer noch von einem Hoppala (österreichisch: Äha!, englisch: Oops!) ins nächste, aber mittlerweile bin ich ganz entspannt. Canada-entspannt könnte man es nennen.
Danke, Ursula, dass ich via Reisetagebuch dabeisein darf! Du beschreibst so anschaulich, super!
Und danke für dein Porträt am Wasserfall, es ist überhaupt nicht schrecklich.