Samstag, 27. Mai 2023: Ein Lumberjack, der keinen Kirschkuchen mehr sehen kann.
Tagebuch:
Als wir Kapuskasing verließen, bekam Annie Way noch ein Pickerl mit der Aufschrift kapuskasing.ca geschenkt. Das trägt sie jetzt links auf ihrer Hintertür über der Nummerntafel. Ich sammle an sich keine Aufkleber, aber Kapuskasing ist einfach etwas Besonderes für mich.
Ein wenig tat es mir leid, dass ich keinem richtigen Lumberjack über den Weg gelaufen war, aber objektiv betrachtet war damit auch nicht zu rechnen gewesen.
Ich hatte einen Campingplatz am Wild Goose Lake etwa 20 km westlich von Geraldton gebucht. Gänse gab es dort zwar keine, aber wild war die Sache schon ein bisschen. Allerdings auch sehr romantisch. Und auf den zweiten Blick absolut perfekt.
Als ich mich erkundigte, ob es irgendwelche Wanderwege in der Gegend gäbe, sagte die Besitzerin des Campingplatzes, ja, aber die seien zugewachsen. Ich könne auf den Straßen gehen.
Dazu muss man wissen, dass der Transcanada Highway 11 auf den 800 km von Iroquois Falls bis Thunder Bay die einzige Straße ist, die in Ost-West-Richtung verläuft, und auch die nördlichste. Noch weiter im Norden gibt es nur mehr Zug oder Flugzeug.
Die nächste Straße im Süden verläuft ein paar hundert Kilometer entfernt. Es gibt tatsächlich eine (!) Nord-Süd-Verbindung auf diesen 800 km!
Aber zurück zu der Strecke, die Annie Way, die Gang und ich gefahren sind. Auf den 200 km zwischen Hearst und Longlac war schlichtweg nichts. Außer Wälder und Seen selbstverständlich. Und Flüsse. Aber hauptsächlich Wälder. Ein Hirsch. Kanadagänse. Schwarzfichten, Lärchen, Birken, Föhren, Erlen. Reiher.
Und als wir dann auch noch Longlac, den nächsten größeren Ort, schlichtweg übersahen und schon wieder draußen waren, bevor ich nach einer Tankstelle Ausschau halten konnte, wurde ich kurz ein wenig unlocker und nahm in Geraldton eine Full Service Tankstelle, wo der Diesel um einiges teurer ist, einfach aus Panik. Dabei wären wir wahrscheinlich noch problemlos bis Thunder Bay gekommen, Annie Way braucht auch in Kanada weniger als acht Liter auf 100 km. Aber diesen Nervenkitzel wollte ich mir ersparen. Außerdem gab’s auf der Strecke nach Thunder Bay dann ohnehin wieder Tankstellen. Günstige. Das konnte ich natürlich nicht wissen.
Zurück zum Wild Goose Lake und dem Vorschlag der Campingplatzbesitzerin, ich solle auf den Straßen gehen. Es gibt gelegentlich nicht asphaltierte Straßen, die vom Transcanada Highway abzweigen und meistens zum nächsten großen See führen, wenn der zufällig nicht direkt am Transcanada Highway liegt. Weil ja, wie schon erwähnt, der Transcanada Highway ein Strich in der Landschaft ist, so gerade, wie er gebaut wurde. Hügelauf hügelab, aber gerade.
Auf diesen nicht asphaltierten Nebenstraßen kann man tatsächlich ganz wunderbar wandern und sich gleichzeitig einreden, dass die Bären ohnehin nicht auf die Straßen kommen. Weil sie Autos nicht mögen. Es fahren zwar keine Autos, zumindest nicht, während ich wanderte, aber trotzdem. Bären kommen nicht auf Straßen. Seit ich die Wanderwege von Moonbeam überlebt habe, bin ich bärenmäßig sehr selbstbewusst. Und auch am Wild Goose Lake lag noch Schnee herum, also haben die Bären dort sicher auch noch geschlafen.
Und in der Nacht gab es immer noch Minusgrade.
Wir hatten wieder unendlich viel Platz. Ein paar Dauercamper waren schon da, und ich kam mit einem Herrn ins Gespräch. Bearspray? Nein, Bearspray brauche ich keinen. Ein Bär ist harmlos. Der tut eh nichts.
Weil ja Kapuskasing nicht weit entfernt liegt – nur halb Österreich in Ost-West-Richtung -, erzählte ich wieder die Geschichte – Vater, Kapuskasing, Lumberjack. Darauf meinte er: „Schade, dass Gary nicht da ist. Der war auch Lumberjack, als er jung war.“
Das tat mir sehr leid.
Am Abend kamen fünf Leute daher spaziert, zwei Ehepaare aus Thunder Bay, darunter der eine Herr, den ich schon kannte, und der stellte mir den Fünften in der Runde vor: Gary.
Dann luden sie mich ein, wir setzten uns zu einem der Wohnwagen. Dabei wurde viel gescherzt, und Gary meinte, wenn man solche Freunde hat, dann braucht man keine Feinde mehr.
Ich erfuhr an diesem Abend einiges über das Leben in den Camps.
Am nächsten Morgen besuchte ich Gary noch bei seinem Wohnwagen, bevor ich abfuhr. Ich zeigte ihm die Bilder, die die Damen vom Visitor Center in Kapuskasing für mich ausgedruckt hatten. Er meinte, das sei so lange her …
Ein ganzes Leben ist seither vergangen. Gary ist 85 Jahre alt. „I pretend to be old!“, sagte er. Ich tu so, als sei ich alt. Von 1955 – 59 arbeitete er „in the bush“, also in einem Camp als Lumberjack. Damals gab es noch keine Maschinen, und es wurde mit Pferden gearbeitet.
Die Camps bestanden aus einzelnen Holzhäusern. Jeweils fünfzehn bis zwanzig Männer schliefen in einem Raum, insgesamt waren es 100 bis 150 pro Camp. Sechs Tage in der Woche wurde gearbeitet. Manche Camps waren so weit weg vom nächsten Ort, dass man gar nicht nach Hause konnte. Unter den Männern herrschte großer Zusammenhalt. Die Camps waren dafür bekannt, dass die Küche ausgezeichnet war. Gary schien da nicht so viel Glück gehabt zu haben, denn als Nachtisch gab es in seinem Camp immer nur Kirschkuchen.
Es wurde auch bei sehr großer Kälte gearbeitet. Allerdings blieben ab -40°C die Pferde im Stall, aber die Männer mussten trotzdem hinaus. Sehr viele Finnen waren in den Camps. Im Winter kamen auch Leute aus Quebec, wenn in der Landwirtschaft Pause war und sie etwas dazuverdienen wollten. Im März wurden die Camps meistens für eine Weile geschlossen, da konnte nicht gearbeitet werden.
Später wurden die Camps aufgegeben, weil es sehr teuer war, sie zu bauen und zu erhalten. Es kam billiger, die Lumberjacks jeden Tag in den Wald zu bringen. Da viele von ihnen Familie hatten, wollten sie nicht mehr in den Camps leben. Außerdem wurde dann schon mit Maschinen gearbeitet, was alles veränderte.
Gary bestätigte, dass sie Schneisen in den Wald schlugen und dann weiterzogen. Er nannte sie „stripes“ – Streifen.
Er war nicht in Spruce Falls, der Paper Mill von Kapuskasing, sondern bei einer anderen, aber die Bedingungen waren dieselben, nur dass Kapuskasing noch kälter war.
„It was very very hard work“, erinnerte er sich. Es war sehr sehr harte Arbeit.
Interessant auch, dass er Kapuskasing nicht auf der dritten Silbe betonte (kapus’kasing), wie es jetzt ausgesprochen wird, sondern er sagte ka’puskasing. Ich hielt das zunächst für einen Scherz, aber er meinte, das sei ganz früher wirklich so ausgesprochen worden. Durchaus möglich, das Wort stammt schließlich aus der Sprache der Cree.
Gary hatte ein interessantes Leben mit vielen verschiedenen Jobs. Von seinen sechs Kindern lebt ein Sohn bei ihm im Haus in Geraldton, und einer arbeitet in Den Haag in den Niederlanden an einer internationalen Schule. Der wird heuer im Sommer zu ihm kommen.
Die warme Jahreszeit verbringt Gary immer am Wild Goose Lake. Zu meinem Glück, denn so bekam ich nicht nur einen „Augenzeugenbericht“ vom Leben als Lumberjack in einem Camp in den 1950er Jahren, ich durfte auch den jüngsten 85-Jährigen kennen lernen, der mir je begegnet ist. Gary, you are just wonderful! Big hug!
Ich glaube, das Leben in der Wildnis hält jung. Wie du kürzlich meintest, ist unser Arbeitsplatz / dein ehemaliger (!) auch eine Art von Wildnis…
Wie sonst hättest du dich so frisch gehalten- oder zeigen knapp 3 Wochen Kanada schon Wirkung?