Hallo Leute!
Die Zeit vergeht hier so schnell! Vielleicht, weil wir jeden Tag in aller Gemütlichkeit so viel erleben. Vielleicht aber auch, weil wir so viel Spaß haben.
Die Hilde und ich.
Die Hilde ist jetzt offiziell Mitglied der Gang. Ich habe das beschlossen, einstimmig. Und ich bin schließlich die Chefin hier.
Letzte Woche hat die Ursula wieder mal die Stirn gerunzelt, als sie den Leopold nach einer längeren Fahrt im Sicherheitsgurt hängen sah, und gemeint: „Leopold, so geht das nicht. Du bist zu groß und zu schwer.“ Dann hat sie ihn aus seinen vielen violetten Bändern befreit, mit denen sie ihn befestigt hatte.
Und dann saß der plötzlich vorne auf dem Beifahrersitz! Ich meine, geht’s noch! Typisch! Der Mann darf vorne sitzen!
Aber es hat nicht lange gedauert, da hat die Ursula zur Leona Löwenfeld gesagt: „Wenn der Leopold vorne sitzt, dann darfst du auch nach vorne.“
Na, immerhin. Aber auf das Faultier wird selbstverständlich vergessen.
Keineswegs, wie sich gleich darauf herausstellte. Denn ich bin von der Konsole für den Fernseher, den wir nicht haben, auch nach vorne befördert worden.
Da saß ich nun tagsüber neben Leona Löwenfeld und Leopold, die … wie soll ich sagen, sie können irgendwie ihre Pfoten nicht voneinander lassen. Ist ja eh nett, aber da fühlt man sich als Faultier ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen.
Als die Ursula das mitgekriegt hat, hat sie ein ernstes Wort mit den beiden geredet. Von wegen nicht während der Schwangerschaft im finsteren Oberschrank. Mitten auf dem Atlantik.
Leopold und Leona Löwenfeld haben versprochen, nicht schwanger zu werden. Und ich durfte endlich wieder an meinen angestammten Platz zurück. Dort, wo ich hingehöre. Ich rutsche nämlich nicht von der Schnalle des Sicherheitsgurts neben der Kopfstütze runter, denn ich bin weder zu schwer noch zu groß, sondern perfekt. Für diesen Platz. Außerdem brauche ich keinen Sicherheitsgurt, denn meine Pfoten sind magnetisch. Ich hänge ganz von allein dort rum.
Warum die Ursula dann auch die Hilde zu mir heruntergeholt hat, weiß ich nicht. Vielleicht, damit wir uns unterhalten können. Und Leute, die Hilde ist wirklich nett, wir verstehen uns gut und blödeln dauernd.
Das Einzige, was ein wenig nicht ganz so toll ist, ist, dass die Gang jetzt oft getrennt ist. Die Raubtiere vorne, das Faultier und die Wichtelin hinten. Dafür haben wir alles im Blick, während Leona und Leopold unten auf dem Sitz nicht einmal sehen, wo wir hinfahren. Aber wenn wir nicht unterwegs sind, sitzen die beiden auf der Rückbank oder auf dem Tisch, ganz in meiner Nähe.
Was hat sich noch so ereignet in den letzten zwei Wochen …
Der erste Monat ist vorbei, da waren’s nur noch fünf.
Die Sache mit den Socken. Als in Riviere-du-Loupe (man beachte, dass ich weiß, wie man das wirklich schreibt!) plötzlich drei einzelne Socken aus dem Trockner kamen.
Mittlerweile ist die Ursula ein Trocknerprofi. Es bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig, obwohl sie Wäscheleine und Klupperl mithat. Aber die meisten Campingplätze erlauben nicht, dass man an den Bäumen – sofern vorhanden – Wäscheleinen befestigt. Also Trockner.
In Kapuskasing klappte alles perfekt, der Trockner lieferte nach vierzig Minuten eine wunderbar duftende und nicht statische Wäsche, weil die Ursula Tücher besorgt hatte, um das Knistern und die Funken zu vermeiden. Sie wollte zwar nichts mit Duft, aber die neutralen gab’s nur in der Großpackung.
Wie gesagt, es klappte perfekt, bis die Ursula dann die Socken paarweise zusammenlegen wollte. Da blieben vier Singles übrig.
Eine noch nasse Socke fand sich in der Waschmaschine wieder und gehörte zu einer trockenen. Eine der vier Singles passte zu einer der drei Singles von Riviere-du-Loupe. Bleiben in Summe vier Singles übrig. Ich schwöre, ich habe alles genau beobachtet. Die Ursula trägt ihre Socken paarweise. Allerdings hat sie eine unglaubliche Menge Socken mit, die haben fast nicht mehr Platz im Sockensack. Da ist wohl vor der Reise wieder mal die Panik mit ihr durchgegangen. Es könnte ja Campingplätze ohne Waschmaschine geben! Und seit es tagsüber über 30°C und nachts über 20°C hat, trägt sie überhaupt keine Socken mehr. Nicht einmal zum Wandern. Da hat sie ihre Trekkingsandalen an.
Gestern hat sie wieder gewaschen. Vier Single-Socken kamen aus dem Trockner, und die passten genau zu den Verwaisten im Sockensack. Kann mir das jemand bitte erklären?
Der Herd funktioniert übrigens perfekt. Bis auf die Tatsache, dass die Ursula nicht kocht. Was ich nicht verstehe, in Skandinavien voriges Jahr hat sie ja auch gekocht. Aber diesmal nicht. Ich hab aber gehört, wie sie am Telefon zu einer Freundin gesagt hat: „Bisher war mir nicht nach Kochen. Vielleicht kommt’s noch.“ Sie ernährt sich hauptsächlich von Salat in allen Variationen, Obst, Cinnemon Rolls, Brownies, Muffins, Käse, und Nudelzeugs. Und zum Frühstück macht sie Kaffee. Der scheint ihr richtig gut zu schmecken. An Fahrtagen, also zwei- bis viermal pro Woche, kann es auch sein, dass wir irgendwo Pause machen und sie essen geht. Oder wir sehen einen schönen See, machen Halt, und sie isst zur Abwechslung Salat mit allen möglichen Inhalten – was gerade im Kühlschrank ist. Da landen gelegentlich sogar eine Banane oder ein Apfel darin. Und Nüsse. Und Cranberrys. Und Käse.
Die Sache mit dem Bären habe ich live miterlebt. Das war schon ganz schön aufregend! Mir kommt vor, wenn wir längere Strecken fahren, döst die Ursula immer so ein bisschen dahin. Die Annie Way macht ohnehin alles, insofern ist das kein Problem. Wir fahren also gemütlich am Transcanada Highway, auf einmal richtet sich die Ursula in ihrem Sitz auf, hüpft auf die Bremse und ruft: „Sally, da ist was auf der Straße!“
Ein Elch?
„Sally, das ist ein Schwarzbär!“
Die Annie Way rollt langsam weiter, auf den Bären zu. Der schaut die Annie Way an, die Annie Way schaut ihn an, und der Bär macht kehrt und geht zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist. Am Straßenrand bleibt er noch einmal stehen und schaut uns an. Genau in dem Moment hat die Ursula die Kamera schon in der Hand und drückt ab. Dann läuft der Bär los und verschwindet zwischen den Bäumen. Davon gibt’s ein Video. Wie ein Schwarzbär vor uns davonläuft.
Das klingt jetzt gar nicht so dramatisch, denn schließlich sind wir ja alle sicher in der Annie Way gesessen. Aber trotzdem. Die Hilde und ich haben eine Weile gebraucht, um uns zu beruhigen. Und die Leona und der Leopold waren sauer, weil sie nichts gesehen haben vom Beifahrer:innensitz aus. Das kommt davon, wenn man unbedingt vorne sitzen muss!
Und dann: „Verdammt!“, sagte die Ursula. „Es gibt also doch Bären in Kanada.“
Da wird eine in nächster Zeit nicht mehr so locker durch die Wälder spazieren, schätze ich.
Wobei, jetzt sind wir ja in der Prärie. Die beginnt genau in der Mitte von Kanada bei Winnipeg. Wir sind vom Atlantik und vom Pazifik gleich weit entfernt. Und das nach einem Monat, in dem wir nicht das Gefühl hatten, dass wir uns fahrmäßig abgehetzt hätten – im Gegenteil.
Der Bär hat uns nicht gefressen. Dafür haben wir es jetzt mit Gelsen zu tun. Die Ursula hat sich fürs Bett Moskitovorhänge gebastelt. Sie hatte von einem gewissen schwedischen Möbelhaus Billigst-Stores mitgenommen und diese jetzt auf die richtige Größe für Annie Way zusammengeschnitten. Dann musste wieder einmal eine ihrer zwei Rollen Gewebeband herhalten, diesmal die weiße. Und es hat funktioniert.
Die Annie Way ist ja bei der Schiebetür und bei allen Fenstern nicht nur mit Verdunklungsrollos, sondern auch mit Moskitonetzen ausgestattet. Aber die Biester kommen natürlich trotzdem herein, und deshalb gibt’s jetzt für das Bett noch eine zusätzliche Barriere.
Wenn die Ursula aber gegen Abend draußen sitzt, dann kann es schon sein, dass sie gestochen wird. Sie bemerkt das leider nicht. Und sie spürt auch nachher nichts. Aber es ist zu sehen. Ich habe gezählt. Auf dem linken Bein hatte sie heute in der Früh 23 Stiche. Auf dem rechten nur 18. Schaut ziemlich furchtbar aus.
Die Annie Way wird ja häufig fotografiert, auch wenn die Ursula nicht da ist. Und wenn sie da ist und es bemerkt, fragt sie immer, ob etwas nicht in Ordnung ist. Die Leute erzählen ihr dann, dass sie von der Annie Way begeistert sind. Heute hat sie ein junges Paar sogar hereingelassen, damit sie sich die Innereien genau ansehen konnten. Die bauen sich gerade selbst einen Van zu einem Camper um. „You are living my dream!“, meinte der Mann.
Wir leben nicht nur seinen Traum, wir leben vor allem den von der Ursula. Und die steht oft einfach nur da und sagt so Sachen wie: „Sally, das ist alles viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe.“ Oder: „Das gibt’s doch nicht, dass es einem einzelnen Menschen so gut gehen kann!“
Ich weiß nicht, wie das bei einem einzelnen Menschen ist, aber ich weiß, wie es bei einem einzelnen Faultier und seiner Gang ist: Es geht uns gut. So richtig verdammt gut!
So, Leute, das war die Bilanz nach einem Monat Kanada. Gar nicht übel, oder? Und ihr, lasst es euch genauso gut gehen wie wir! So richtig verdammt gut!
Eure Sally