Hallo, liebe Leute,
manche von euch haben schon ein wenig gemurrt, weil ich mich so lang nicht gemeldet habe. Aber ganz ehrlich, ich bin viel zu beschäftigt. Schließlich leite ich ein Unternehmen mit mehreren Mitarbeiterinnen und einem Mitarbeiter, da habe ich einiges zu tun. Der Leopold, die Leona Löwenfeld, die Hilde, die Ursula und die Annie Way zählen auf mich.
Die Annie Way ist am problemlosesten. Außer dass sie ziemlich schmutzig geworden ist in letzter Zeit. Das liegt daran, dass wir seit dem 62-Stunden-Dauerregen in Jasper keinen Regenguss mehr hatten. Die Windschutzscheibe bekommt die Ursula nicht einmal mehr an der Tankstelle sauber. Wenn sie nicht darauf vergisst, nach dem Tanken die Scheibe zu reinigen. Meistens vergisst sie. Dann jammert sie mich anschließend an. Was kann ich denn dafür, ich bin das Faultier!
Das mit dem Tanken klappt inzwischen sehr gut. Die Ursula hat auch schon das Selbstbewusstsein, bei den co.op-Tankstellen ins Geschäft zu marschieren und zu sagen: „Ich muss herinnen zahlen, bei der Zapfsäule wird meine Kreditkarte nicht akzeptiert.“ Bis vorige Woche ist sie immer weggefahren und hat nach einer anderen Tankstelle gesucht, PetroCanada zum Beispiel oder Esso oder Mobil. Aber jetzt haben wir auch co.op erobert.
Ich erinnere mich noch an das Desaster in Norwegen, als zum ersten Mal AdBlue zum Nachfüllen war. Die Annie Way hat danach monatelang gestunken. Und wer von euch weiß, was AdBlue ist, kann sich vorstellen, wonach sie gestunken hat. Das war nicht gut.
Inzwischen hat die Ursula hier schon zweimal DEF nachgefüllt. Profimäßig. Und die paar Tropfen, die danebengegangen sind, sind nicht im Innenraum von der Annie Way gelandet. Auf dem Boden im Freien ist das ja kein Problem. Diejenigen von euch, die wissen, was AdBlue ist, wissen auch, dass es etwas ganz Natürliches ist.
Trotzdem will man es nicht riechen. Oder besser gesagt: Deshalb will man es nicht riechen.
Die Annie Way riecht gar nicht so schlecht, dafür, dass wir schon zwei Monate unterwegs sind.
Alles läuft ganz locker. Ich mache meinen Job wirklich gut. Leona und Leopold haben sich auch wieder beruhigt, jetzt spielen sie ein bisschen auf altes Ehepaar. Sie scherzen viel. Dass sie auf dem Beifahrer:innensitz nichts mitbekommen, was passiert und wo wir gerade sind, gefällt ihnen nicht so besonders. Aber dass sie vorne sitzen dürfen, darauf bilden sie sich eine Menge ein.
Ich bin die Stimme aus dem Hintergrund. Und seit ich mit der Hilde so viel Spaß habe, vergeht die Zeit noch schneller. Wenn wir fahren, spielen wir immer „Wer sieht den nächsten Bären zuerst?“ Mittlerweile haben wir so viele Schwarzbären gesehen, auch Babys, dass wir zu zählen aufgehört haben. Leopold und Leona haben noch keinen einzigen gesehen – nur den Grizzly. Das kommt davon, wenn man vorne sitzt!
Seit wir kaum mehr Radioempfang haben, hat die Ursula einen schraubenförmigen USB-Stick an eines der Kabel von Annie Ways Navi-Rückfahrkamera-Radio gehängt und gemeint, dann ist es wenigstens für irgendwas gut. Die Navita kennt sich in Kanada nämlich überhaupt nicht aus. Der Tom-Tommi ist ein bisschen gescheiter, aber er schafft keine Adressen, sondern nur die Route ins Stadtzentrum des jeweiligen Nests, wo wir hinfahren. Google bringt uns überall hin, bis vors Büro des Campingplatzes. „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Deshalb verwendet die Ursula immer ihr Handy als Navi, wenn sie vor der Abfahrt WLAN hat.
Bisher haben wir noch überall hingefunden. Bravourös.
Aber ich wollte euch von dem USB-Stick erzählen, der jetzt von Navita herunterbaumelt. Den hat die Ursula zu ihrer Pensionierung bekommen. Voriges Jahr im Juli. Dabei hat sie damals nur ihr Sabbatical begonnen. In Pension ist sie offiziell erst seit 1. März 2023.
Auf dem USB-Stick sind 80 Songs, die ihre Kolleginnen und Kollegen für sie ausgesucht haben. Die reichen etwa für 250 km.
Was soll ich sagen … Die Songs selbst sind ja nicht das Problem. Ich habe mir erlaubt, anzumerken, dass wir sie jetzt schon verdammt oft gehört haben. Aber die Ursula lässt sich nicht abbringen. Wir fahren weg, und los geht’s genau an der Stelle, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Wenn wir weiter als 250 km fahren, dann fängt das Ganze wieder von vorne an.
Und was noch viel schlimmer ist (ein weniger gut erzogenes Faultier würde jetzt ganz andere Wörter verwenden), ist die Tatsache, dass die Ursula mitsingt. Von Mal zu Mal kann sie die Texte besser. Es gibt kaum mehr einen Song, wo sie auf Lalala umschalten muss. So oft haben wir alles schon gehört. Ich halte das ja für eklatante Faultierquälerei, aber die Ursula meint nur: „Sally, das ist der Song, den die Johanna für mich ausgesucht hat. Und der ist vom Peter. Und der von der Gabi. Und der von der Beate. Und der Dschi Dschei Wischer ist vom Markus.“ Da bin ich machtlos. Wenn ich als Chefin einfach so ignoriert werde … aber wenn die Hilde sich etwas wünschen würde, würde ich das auch über mich ergehen lassen.
Was die Qualität der gesanglichen Darbietungen von der Ursula betrifft, so verstehe ich gut, dass sie auf ihren Wanderungen noch nie einen Bären gesehen hat. Sie singt nämlich, wenn sie wandert. Wenn ich könnte, ich würde auch davonrennen. Aber ich kann ja nicht. Ich bin schließlich die Chefin hier.
Was war sonst noch los im letzten Monat … Wir sind schon zwei Monate unterwegs. Ein Drittel der Zeit in Nordamerika ist vorbei. Anfangs dachte ich, ein halbes Jahr – das ist unendlich lang. Leute, das ist es überhaupt nicht. Die Zeit vergeht immer noch wie im Flug, und das, obwohl wir es uns so richtig gemütlich machen.
Die Socken. Mittlerweile ist die Ursula ja auch Profi, was die jeweiligen Trockner anbelangt. Sie hat ausschließlich schwarze Socken. Und ein Paar mit Hummeln. Eigentlich sind es Bienen, aber die Ursula sagt, es sind Hummeln. Weil sie sie von einer Freundin bekommen hat, die Hummeln mag. Obwohl die Freundin auch gesagt hat, es sind Bienen.
Vor kurzem kam ein Paar blaue Socken aus dem Trockner. Woher auch immer. Da sie genau Ursulas Größe hatten, hat sie sie mitgenommen und trägt sie gelegentlich. Bei der gewaltigen Menge an Socken im Sockensack, kommt es auf ein zusätzliches Paar auch nicht mehr an.
In Barkerville hat sie sich ein T-Shirt gekauft mit der Aufschrift Barkerville. Lila selbstverständlich. In den zwei Tagen, die sie es schon getragen hat, ist sie sieben Mal angeredet worden: „You were in Barkerville!“ Und dann wollten die Leute wissen, wie es war und ob es sich auszahlt hinzufahren. Die Ursula hat immer ganz begeistert davon erzählt.
Ach ja, das Gasproblem. Gibt es eine Steigerung zu einem Gastank, der viel zu fest verschraubt ist? Was ist der Worst Case?
Wenn das Gas genau dann ausgeht, wenn es Minusgrade hat, draußen Schnee liegt und es gerade Schuastabuam regnet (auf Deutsch: extrem stark regnet). Um 23 Uhr. Und man die Hintertüren von Annie Way nicht aufmachen will, weil sich sonst ein Schwall von Wasser auf die Matratze ergießt, egal wie viel Plastikplane man über das Bett legt.
Man könnte natürlich die Matratze entfernen … Wieso ist die Ursula nicht auf diese Idee gekommen?
Weil sie stinksauer war, als die Heizung ausfiel.
Zuerst. Aber dann hat sie gemeint: „Sally, heute Nacht wird es saukalt.“ Also hat sie uns alle zugedeckt und sich selbst vier Lagen verordnet. Sie drückt die Kälte einer Nacht in Lagen aus. Heute wird eine Drei-Lagen-Nacht, sagt sie, wenn es über 5 Grad Celsius hat. Darunter sind vier Lagen, sprich: zwei Steppdecken und zwei Schlafsäcke. Ab 15 Grad schläft sie mit nur mehr einer Steppdecke.
Passiert ist das mit dem Gas in Jasper. Und wer stand in Jasper auf dem Platz neben uns? – Richtig: Donna und Paul! (Und kurzzeitig der Grizzly. Etwas länger die Elks. Aber die lagen die meiste Zeit.) Der Paul kam am nächsten Tag bei Sonnenschein mit dem richtigen Werkzeug an, und es dauerte nicht lang, bis das Problem gelöst war – im wahrsten Sinne des Wortes. Die neue Gasflasche schloss die Ursula selbst an, damit sie es auch schaffen würde, sie auszutauschen. Danach machten sie sich auf zu einem Hardware Store, wie die Heimwerker:innen-Märkte hier genannt werden, und die Ursula besorgte sich ein entsprechendes Keine-Ahnung-wie-das-Heißt und schaut seither sehr zuversichtlich in die Zukunft der Gasversorgung.
In Dawson Creek, einer gar nicht so kleinen Kleinstadt, hatte sie ein kleines gesundheitliches Problem. Wenn ich die Ursula richtig einschätze, wartet sie in solchen Fällen, bis sich das Problem von selbst löst. Aber irgendetwas war diesmal anders. Sie recherchierte sogar im Internet und wirkte ein wenig nervös.
Also auf zur Suche nach einem Arzt oder einer Ärztin. Zentrum Nummer eins: „We don’t take walk-ins. XY take walk-ins.“ Wir nehmen keine dahergelaufenen Leute, aber XY nimmt sie.
XY vernahm verwundert, dass sie walk-ins nehmen. „Nein, heute nicht. Nächste Woche wieder, Sie können einen Termin haben.“
Das dritte Ärzt:innenzentrum von Dawson Creek war geschlossen. Einen Moment hat die Ursula überlegt, ob sie ins Spital fahren und um Hilfe bitten sollte.
Aber dann hat sie sich zurückgelehnt und gesagt: „Egal, Sally, es ist nichts, was besonders eilig ist. Da ist noch genug Zeit, wenn ich heimkomme. Es wird zwar mindestens drei Tage dauern, bis bei der Andrea jemand abhebt, und dann werden sie mir einen Termin in drei Wochen geben, aber das geht sich immer noch aus.“ Die Andrea ist ihre Hausärztin, die sie alle paar Jahre einmal besucht, meistens nur, um sich ein wenig mit ihr zu unterhalten. Nur vor der Reise war sie vorsichtshalber noch einmal dort. Da wollte die Andrea ihr eine Tollwutimpfung verpassen, falls sie von einem Tier gebissen wird. Die Ursula hat gemeint, wenn sie in Kanada oder USA von einem Tier gebissen wird, dann wird das wahrscheinlich ein Bär sein oder eine Klapperschlange, dann ist Tollwut ihr geringstes Problem. Das hat die Andrea eingesehen und die Impfung bleiben lassen. – Und was die Gesundheit von der Ursula betrifft: Sie hat gewartet, bis sich das Problem von selbst gelöst hat. Am Tag nach der Suche nach einem Arzt oder einer Ärztin war es so weit.
Apropos Tiere. Was ist neben den Bären das andere Tier, das die Ursula veranlasst, fluchtartig in der Annie Way zu verschwinden und die Türen zu schließen? Und sogar den Alarm von Annie Way auszulösen, damit das Viech verschwindet?
Na, ratet mal! Was kann das sein? Ich gebe euch einen Tipp: Es ist keine Gelse.
Noch ein Tipp gefällig? Schmetterling ist es auch keiner.
Auch kein Elk oder Elch … Habt ihr gewusst, dass Elche ungefähr so hoch sind wie die Annie Way? Und wenn die Ursula in der Annie Way sitzt und ein Elk geht vorbei (was schon mehrmals vorgekommen ist), dann sind sie auf Augenhöhe! Dabei ist ein Elk viel kleiner als ein Elch!
Also, zurück zu dem Tier, das die Ursula mitten im schönsten Wald in die Annie Way zurückgetrieben hat.
Und falls jetzt jemand ätzen will: Nein, es ist nicht das Faultier.
Es ist ein Red Squirrel, ein stinknormales Eichhörnchen.
Tatsache. Neulich passiert. Die Ursula saß am Pink Mountain vor der Annie Way in ihrem bequemen Sessel und aß Nudelsuppe. Da erschien auf einem Ast ein Eichhörnchen und beschimpfte sie. Lautstark. Und dann kam das Eichhörnchen von seinem Baum herunter und hüpfte schimpfend auf die Ursula zu. Die schimpfte zurück, aber das war dem Eichhörnchen völlig egal. Es sprang ganz einfach auf die Lehne des Sessels. Da schnappte die Ursula ihren Suppenteller und ihren Löffel und flüchtete in die Annie Way. Noch bevor sie die Sachen auf den Tisch stellen konnte, war das Eichhörnchen schon auf der Stufe. Da hat die Ursula dem Tier dann aber doch gezeigt, wer die Herrin in der Annie Way ist – nämlich ich! – und hat die Tür zugeknallt.
Sie hat gelacht und gesagt: „Sally, gerade habe ich noch versucht, die Bärenglocke an einen Ast zu hängen, damit kein Bär auftaucht … dabei hätte ich eine Eichhörnchenglocke gebraucht! – Das kommt davon, wenn die Leute Tiere füttern!“
Das Eichhörnchen gab übrigens nicht auf. Wir hörten, wie es sich unter der Annie Way zu schaffen machte. Die Ursula hat schließlich Annie Ways Innenalarm aktiviert, indem sie die Zündung eingeschaltet hat. Wenn die Einstiegsstufe bei der Schiebetür ausgefahren ist, fängt die Annie Way ganz furchtbar zu wettern an, damit man nicht wegfährt – wäre viel zu gefährlich.
Das hat gewirkt. Ab jetzt haben wir einen funktionierenden Eichhörnchenvertreibungsalarm. Das Tierchen konnte es aber nicht glauben und kam ein wenig später zurück, setzte sich unverdrossen auf Ursulas Sessel, der noch immer draußen stand, und kletterte dann wieder an der Annie Way herum. Zündschlüssel rein und leicht gedreht … Diesmal kam es nicht mehr zurück.
Wir sind mittlerweile so weit im Norden, dass wir weniger als sechs Stunden Dunkelheit haben. Eigentlich wird es überhaupt nicht mehr so richtig finster. Und wir sind so weit im Westen, dass zu Hause in Österreich der Tag schon fast vorbei ist, wenn wir aufstehen. Beziehungsweise ist in Österreich schon der nächste Vormittag, wenn wir ins Bett gehen. Neun Stunden Zeitunterschied. Das ist eine ganze Menge.
Leute, ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr wir es hier genießen. Die Gang funktioniert bestens, alle machen ihren Job, dafür sorge ich schon. Und was wir alles zu sehen bekommen, die Hilde und ich – der Leopold und die Leona ja nicht, weil sie unbedingt vorne sitzen müssen -, es ist unbeschreiblich. Die Ursula hat gesagt, manchmal kann sie es gar nicht fassen, was sie alles erlebt. Uns geht’s genauso.
Neulich hat jemand gefragt, ob die Ursula Heimweh hat. Hat sie nicht. Ganz und gar nicht. Aber sie freut sich total auf die Menschen, mit denen sie zu Hause so gerne Zeit verbringt.
So, das waren die neuesten Nachrichten nach zwei Monaten in Kanada. Wir sind auf dem Alaska Highway. Bin schon gespannt. Und gleichzeitig entspannt. Kanada-entspannt, sozusagen.
Macht’s gut!
Eure Sally