Sonntag, 6. August, 2023: Vom Geisterhaus zum Gletscherfriedhof!
Info:
Der Ort Whittier ist auf fünf Arten zu erreichen: mit dem Zug durch einen schwarzen Tunnel, mit dem Auto durch denselben Tunnel (aber zu anderen Zeiten), zu Fuß über die Berge, am besten von Portage aus, oder per Schiff. Genau auf diese Arten kann man ihn auch wieder verlassen, falls man das möchte. Man möchte.
Whittier verfügt über zwei Hochhäuser, beide vom Militär Anfang der 1950er Jahre gebaut, als die Verteidigung Alaskas im Kalten Krieg für die USA ein wichtiges Thema darstellte. Das Buckner Building thront grau und verfallen über der Stadt, eine Gespensterburg.
In dem anderen Gebäude, dem Begitch Tower, leben fast alle der ca. 270 Einwohner:innen von Whittier. Wollen wir für sie hoffen, dass sie sich gut verstehen.
In Valdez wohnen heute etwa 4.000 Menschen. Im Jahr 1964 war es ein florierendes Städtchen am Ende eines Fjords im Prince William Sound. Um 5:36 am Morgen des 27. März 1964 entstanden während des Good Friday Erdbebens unzählige riesige Spalten in der Erde, die Schlamm und Wasser mehrere Meter hoch in die Luft schleuderten. Gleichzeitig kam es zu einem Erdrutsch unterhalb des Hafens im Meer, wodurch sich eine 15 m hohe Welle aufbaute, die den gesamten Hafen zerstörte und alle Menschen tötete, die gerade dort arbeiteten. Am Ende des Erdbebens und als die Tsunamis abklangen, war von Valdez nichts mehr übrig.
Anstatt die Stadt wieder aufzubauen, entschied man sich, sie etwa 6 km weiter nordwestlich an einem sichereren Platz neu zu errichten. Valdez ist Endpunkt der Alaska-Pipeline. Die tragischen Vorgänge um die Exxon Valdez hat Alaska bis heute nicht überwunden.
Meine Meinung:
Über Whittier möchte ich mich nicht äußern.
Valdez … einer der schönsten Orte der gesamten Reise, wenn nicht der schönste überhaupt.
Tagebuch:
Nachdem ich mich endlich von Homer losreißen hatte können, beschloss ich, keinen Zwischenstopp mehr auf der Kenai-Halbinsel einzulegen, sondern gleich nach Whittier zu fahren, dort zu übernachten und am nächsten Tag die Fähre nach Valdez zu nehmen. Die Fahrt durch den Tunnel wurde etwas kompliziert geschildert, das wollte ich mir nicht am Vormittag antun. In Wirklichkeit war es dann sehr einfach. Wieso müssen die alle offiziellen Sachen im Internet so verkomplizieren – sei es Nationalparks, Fähren, Tunnel, Busverbindungen – es liest sich immer wie eine Dissertation über Weltraumtechnik!
Auf Whittier war ich neugierig. Wo sonst auf der Welt lebt die gesamte Bevölkerung eines Ortes in einem einzigen Haus, das dann auch noch ein Spital, eine Schule, eine Kirche etc. beinhaltet? Und wo sonst hat das US-Militär eine alles überragende Ruine hinterlassen? Ich bin daran vorbeigegangen. Die Stimmen, die man hört, sind durchaus gruselig. Ich will gar nicht wissen, was ich da alles vernommen habe.
Whittier besteht hauptsächlich aus Dingen, die geparkt sind. Zuerst einmal hunderte von Autos. Hunderte von Wohnmobilen. Tausende von Booten. Hunderte von Containern. Unzählige Zugswaggons.
Dazwischen riecht es von den Fischfängen. Das Hochhaus ist zwar mit freundlichen Farben renoviert worden, aber die wenigen Menschen, die hier leben, schaffen es nicht, ihren Ort freundlich aussehen zu lassen. Viele Häuser sind verfallen, unterstrichen vom Buckner Building, der allgegenwärtigen grauen Ruine auf dem Hügel.
Eine positive Überraschung war der Campingplatz – total billig und sehr nett, wenn auch ohne sanitäre Anlagen, geschweige denn Duschen. Mitten im Grünen hinter Whittier, ein von einem Gletscher-Wasserfall gespeister Bach dahinter, dann geht es schon steil bergauf zu besagtem Gletscher, den man aber erst vom Meer aus sieht.
Ich spazierte gedankenverloren auf einem Gehsteig mitten in Whittier dahin, als hinter mir ein Schwarzbär die Straße überquerte. Von dem habe ich kein Foto. (Ich war zu beschäftigt, mit heiler Haut davonzukommen.)
Am nächsten Tag wurde Annie Way auf der Fähre so knapp zwischen zwei andere Fahrzeuge gequetscht, dass ich keine Chance hatte, auszusteigen. Zum Glück ging die Schiebetür gerade noch auf, da konnte ich mich mit viel Ach und Weh durchzwängen. Die Fahrt dauerte fast sechs Stunden.
Auf der Fahrt waren mehrere Gletscher zu sehen, eine Weile begleitete uns eine Gruppe von Tümmlern, und dann tauchten plötzlich Eisberge auf. Keine großen, aber es sah unglaublich melancholisch aus. Da wurde mir klar, dass ich unbedingt eine Tour zum Columbia-Gletscher machen musste, von dem sie herrührten.
In Valdez gaben mir zwei Herren gleichzeitig unterschiedliche Anweisungen, wie ich Annie Way aus ihrer verzwickten Lage heraussteuern sollte. Die Rückspiegel waren eingeklappt, ich war also seitlich „blind“. Schließlich brachte ich die beiden dazu, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen, und dann klappte es. Trotzdem – kein sehr angenehmes Erlebnis.
Ganz anders dann Valdez. Neben der Anlegestelle der Fähre waren ein Museum, das Visitor Center und ein großer Platz, wo gerade ein Fest in Gang war. Schon wieder eines! So viel Aufwand wäre meinetwegen wirklich nicht nötig gewesen!
Der Campingplatz war nett, und ich machte zuerst einmal einen Rundgang Richtung Hafen. Was für ein Unterschied zu Whittier! Blumen, wo immer man hinschaut, alles sauber, freundlich, zum Wohlfühlen. Die Umgebung mit den Bergen und Gletschern dazu – traumhaft!
Am Morgen buchte ich für den folgenden Tag eine Tour zum Columbia-Gletscher. Dann marschierte ich zum Crooked Creek, einen Bach, den im August die Lachse hinaufwandern. Nicht besonders weit, denn dann stehen sie beim Wasserfall an. Es waren auch nur sehr wenige Lachse dort.
Die nächste Station war die Hatchery auf der anderen Seite der Bucht. Valdez liegt ziemlich am Ende des Fjords, sodass es ans gegenüberliegende Ufer nicht weit ist. Dort befinden sich auch die Öllager der Firma Exxon.
Es war gerade Flut, und Millionen von Lachsen waren unterwegs, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen. Mitten in dem Gewühl lagen die Seelöwen und brauchten nur ihre Mäuler zu öffnen – was sie auch taten.
Ein männlicher Steller Sea Lion wiegt zwischen 500 und 1.100 kg, und zwar abwechselnd. Im Sommer frisst er sich voll, um im Winter auf weniger als die Hälfte seines Gewichts zu erschlanken. Weibchen schwanken nur zwischen 320 und 360 kg.
In das Spektakel der Lachse und Seelöwen mischten sich auch noch die Möwen. Denn so mitten im Schlaraffenland nahmen sich die Seelöwen von den Fischen nur die besten Bissen, und der Rest gehörte den Seemöwen.
Ich war zwei Tage später noch einmal dort, da war Ebbe. Genau so viele Lachse, genau so viele Möwen, aber keine Seelöwen. Dafür tausende verendete Fische auf den Schlammbänken.
Ein besonderes Erlebnis war die Tour zum Columbia-Gletscher, der so extrem kalbt, dass die Schiffe an manchen Tagen gar nicht mehr hinfahren können, weil es aufgrund der vielen Eisberge zu gefährlich ist. Wir hatten das Glück, dass es regnete, und wenn es nicht sonnig ist, schmilzt weniger Eis. Die Farben sind Weiß, Schwarz und Blau. Schwarz kommt vom Schlick und Schotter, dem Material, das der Gletscher auf seinem Weg zum Meer mitgenommen hat. Weiß ist das Eis, wenn es schon einmal aufgeschmolzen ist. Blau, wenn es echtes Gletschereis ist, durch Druck aus Schnee entstanden.
Fast 80.000 km2 von Alaska (also beinahe die Fläche von Österreich) sind mit Gletschern bedeckt, das macht 5 % der Gesamtfläche des Bundesstaates aus.
Im Süden Alaskas gibt es viele Gletscher, weil dort sehr viel Schnee fällt. Nördlich der Alaska Range, in Denali zum Beispiel, herrscht von der Niederschlagsmenge her Wüstenklima, weil die Gebirgskette als Wolkenbarriere fungiert. Deshalb gibt es im Norden Alaskas keine Gletscher.
Valdez ist die Schneehauptstadt Alaskas mit einer durchschnittlichen Schneemenge von zehn Metern pro Winter. Es gab aber auch schon einmal einen Winter mit 25 m Schnee. Die Straßen von Valdez im Winter schneefrei zu halten, damit das Leben in der Stadt nicht zum Erliegen kommt, ist eine besondere Herausforderung.
Der Columbia-Gletscher ist an seinem Ende zwei Meilen (3,6 km) breit. Er war der letzte der ins Meer fließenden Gletscher Alaskas, der mit dem Rückzug begann, und zwar erst 1978. Seither hat er sich um 25 km aus dem Meer zurückgezogen und kalbt ständig. Noch etwa 9 km bleiben, dann wird er an Land enden. Die vielen Eisberge und kleineren Eisschollen im Wasser lassen den Eindruck eines Friedhofs mit Grabsteinen entstehen. Hier stirbt ein Gletscher.
Die Eisberge des Columbia-Gletschers haben auch mit der Ölkatastrophe der Exxon Valdez zu tun. 1989 war eines der ersten Jahre, als ständig Eisberge die Schifffahrtsrouten kreuzten.
Während heute etwa 20 Öltanker pro Monat den Hafen von Valdez verlassen, waren es damals noch viel mehr. Wenn ein Tanker auslief, fuhr das erste Stück ein erfahrener Lotse mit, der den Fjord von Valdez genau kannte.
Die Exxon Valdez lief am 24. März 1989 kurz nach Mitternacht aus, alles ging planmäßig vonstatten. Der Lotse übergab an den Captain und verließ das Schiff, der Captain ortete Eisberge auf der vorgesehenen Route, meldete das und bat, eine Kursänderung auf eine andere Fahrrinne vornehmen zu dürfen. Dies wurde ihm, so wie drei anderen Tankern am Vortag, gestattet. Nach der Kursänderung schaltete der Captain den Autopiloten ein und übergab an den 3. Maat mit dem Hinweis, dass das Schiff auf den ursprünglichen Kurs zurückzubringen sei, da es sonst auf die Riffe zusteuerte.
Der Maat nahm die Kursänderung vor, bemerkte aber nicht, dass der Autopilot eingeschaltet war.
Als ihm auffiel, dass das Schiff den ursprünglichen Kurs nicht verlassen hatte, war es schon zu spät. Ein Öltanker braucht mehrere Kilometer, um zu stoppen.
Das an sich wäre noch keine Katastrophe gewesen. Das Wetter war schön, die See ruhig. Hätte man sofort damit begonnen, das Öl einzufangen und abzupumpen, hätte es sich nicht verteilt.
Drei Tage lang gab es Sonnenschein. In diesen drei Tagen wurde diskutiert, wer die Schuld an dem Unglück trug, wer für die Maßnahmen zuständig war und wer sie zu bezahlen hatte.
Als man sich einigte, dass Exxon dafür aufkommen musste, gab es kein Gerät, um das Öl abzupumpen, denn das lag unter einer 10 m hohen Schneedecke irgendwo in der Nähe von Valdez begraben. Und gleichzeitig fingen die üblichen Winterstürme wieder an und brachten riesige Wellen mit sich. An eine Bergung des Öls war in den folgenden Wochen nicht zu denken.
Als die Stürme sich legten, hatte sich das Öl nach Südwesten verteilt und bedeckte über 2.000 km Küste.
Noch heute stößt man in Südalaska auf Öl, wenn man an der Küste einen Stein hebt oder in den Kies hineingräbt.
Seither müssen Öltanker zweiwandig sein. Der Lotse fährt mit jedem Tanker so weit hinaus, bis das Schiff die Untiefen hinter sich gebracht hat. Zwei Schiffe, die die Stärke haben, einen Tanker zu stoppen oder seinen Kurs zu korrigieren, begleiten ihn bis hinaus auf die offene See. Eines davon ist direkt mit dem Tanker verbunden, das andere kann sofort verbunden werden. Sämtliche Gerätschaften, die benötigt werden, um Öl einzufangen und abzupumpen, sind an verschiedenen Stellen entlang der Küste gelagert und können sofort zum Einsatz gebracht werden. Und es laufen nicht mehr mehrere Tanker pro Tag aus, sondern „nur“ mehr zwanzig pro Monat.
Die Alyeska Pipeline, die in Valdez endet, ist 800 Meilen / 1.280 km lang und beginnt in Prudhoe Bay am Arktischen Ozean. Seit 1977 fungiert Valdez als Terminal für das Öl.
Aber zurück zu meinem Ausflug zum Columbia Gletscher. Der war nämlich längst noch nicht zuende, nachdem uns der Captain umfangreich über das Unglück mit der Exxon Valdez informiert hatte. Dann fuhren wir nämlich noch zurück. Erfahrene Seeleute wissen nicht nur, wie man ein Schiff lenkt, sondern auch, wo man hinfahren muss, um Wale zu sehen. Aber auch das richtige Verhalten, um die Wale nicht zu vertreiben, will gelernt sein. Zwei Orkas begleiteten uns so lange, dass unsere Tour schließlich eine Stunde länger dauerte als vorgesehen – denn wer dreht schon ab, wenn Wale da sind?
Und jetzt stellt euch das einmal vor: Ihr öffnet am Morgen die Tür eures Campervans und steht vor einem Panorama, das seinesgleichen sucht. Auf allen Seiten türmen sich Bergspitzen, viele mit Gletschern und Schneefeldern überzogen. Vor euch liegt ein hübsches Städtchen, das zu einem Bummel und zu einem morgendlichen Kaffee mit Blick auf den Fjord einlädt.
Dass es mir nicht leichtfiel, Valdez zu verlassen, lässt sich damit vielleicht illustrieren.
Aber ich würde zwei Tage später schon wieder in Alaska sein. Und ein bisschen Yukon Territory dazwischen ist ja auch nicht zu verachten – im Gegenteil! Denn so unglaublich schön Alaska ist … Im Grunde meines Herzens ist es immer noch der viel weniger spektakuläre Yukon, wo ich mich am wohlsten gefühlt habe.
Allerdings muss ich meine anfänglichen Bemerkungen über die Menschen in Alaska relativieren. Ich habe auch hier so viele offene, freundliche Leute kennen gelernt, dass ich die Gier im Denali-Dorf, die mich ursprünglich so geschockt hat, längst als Einzelerscheinung sehen kann. Drei Wochen, eventuell ein bisschen mehr als drei Wochen, hatte ich für Alaska vorgesehen. 33 Tage sind es geworden. Das wird wohl einen Grund haben.