Hallo Leute,
wie geht’s euch so? Alles entspannt?
Bei mir läuft’s im Moment nicht ganz so toll. Schon. Was unsere Reise betrifft, passt alles. Aber meine Versuche, in den Oberschrank zu kommen, sind bisher kläglich gescheitert. Nicht, dass ich nicht hinaufklettern könnte. Ich bin schließlich ein Faultier, ich kann überall herumhängen. Es dauert zwar ein bisschen, aber es funktioniert. Immer.
Leider nützt es überhaupt nichts, wenn ich mich an den Druckknopf hänge, mit dem man den Oberschrank öffnet. Die Tür wird nämlich nach oben aufgeklappt, wodurch ich dann unweigerlich an der Decke kleben würde. Außerdem bringe ich das Ding sowieso nicht auf. Ich glaube, da hätte selbst der Leopold Probleme, obwohl er so kräftig und schwer ist. Aber der schafft es ja nicht einmal, irgendwohin zu klettern, und schon gar nicht so weit nach oben. Der Leopold ist eher ein bodenständiger Typ.
Apropos Boden. Neulich saßen wir alle gemütlich während der Fahrt auf unseren Plätzen – zumindest die Leona, die Hilde und ich saßen gemütlich, der Leopold nicht ganz so sehr – und sangen bei der Playlist Annie Way mit. Seit die Ursula nicht mehr singt, haben wir das übernommen. „Rote Lippen soll man küssen“ hieß der Song, den hat die Petra für die Ursula ausgesucht, und die Ursula muss immer lachen, wenn der kommt. Wir Lionfields sind inzwischen ein eingespieltes Quartett und könnten jederzeit auftreten. Falls uns jemand buchen möchte …
Die Hilde hat eine engelhafte Stimme, wunderschön, die singt ihren eigenen Hall gleich mit und braucht dazu keinen Synthesizer. Die Leona ist eine Rockröhre, eine Mischung aus Tina Turner und Pink. Unglaublich, was so eine Wichtelin und eine Löwin gesanglich zustande bringen können! Ich bin wie immer die Chefin, halte mich aber nobel zurück und singe die zweite Stimme. Eher unabsichtlich. Und vorsichtshalber leise. Der Leopold spielt auf Tuba, der singt mit seinem Bass nur Tüü Tüü Tüü. Aber alles zusammen klingt einfach genial. Wie gesagt, wenn uns jemand buchen möchte, wir haben ein 400 km reichendes Repertoire von Deep Purple, Tina Turner, Queen, Cyndi Lauper, den Beatles, ABBA – ja, tatsächlich! – bis zu Fools Garden, Dolly Parton und dem Literaturnobelpreisträger … Wie hieß der noch gleich? Nicht zu vergessen Whitney Huston, Pink Floyd, Aretha Franklin, Willie Nelson, John Denver und viele andere mehr.
Also, wir saßen zu 75 % gemütlich und zu 25 % nicht ganz so gemütlich in der Annie Way und sangen. Denn zum Küssen sind sie da. Rote Lippen sind dem siebten …
Und genau in dem Moment drehte die Ursula die Musik ab. Ich protestierte lautstark. Was erlaubt die sich überhaupt, ohne zu fragen! Wer ist denn hier die Chefin?
Die Ursula meinte aber nur: „Sorry, Leute, aber jetzt wird’s kurvig und steil, außerdem hat gerade der Asphalt aufgehört. Ich muss hören, was Annie Way für einen Gang braucht, und das kann ich nicht, wenn ihr singt. Sobald wir auf eine normale Straße zurückkommen, schalte ich wieder ein.“
Was soll ich da noch sagen? Sie muss hören, was die Annie Way für einen Gang braucht! Demnächst muss sie noch riechen, ob die Annie Way genug AdBlue hat! Das heißt hier übrigens DEF, stinkt aber genauso. Oder sehen, wo wir hinfahren! Da ist sie überhaupt nicht heikel. Dazu müsste sie nämlich die Windschutzscheibe putzen, aber das vergisst sie jedes Mal. Immer wieder. Und ich kann es mir dann wieder anhören! Ich hab ohnehin schon mehrmals gesagt, sie soll sich nicht bei mir beschweren, wenn sie nicht mitdenkt. Ich bin das Faultier, fürs Denken werde ich nicht bezahlt. Um genau zu sein, ich werde überhaupt nicht bezahlt. Da leite ich ein Unternehmen und eine Gang, und dann springt nichts für mich raus. Ich muss in diesen Oberschrank!
Auf jeden Fall fuhren wir dann eine kurvige, nicht asphaltierte Straße mit Schlaglöchern und Wellen. Die Leona, die Hilde und ich kannten das ja schon vom Top of the World Highway, aber der Leopold ist damals noch unten auf dem Beifahrersitz gesessen und hat nichts gesehen. Für ihn war es das erste Mal, dass er so eine Fahrt auch optisch miterleben durfte. Und während die Annie Way genüsslich schnurrte, begann der Leopold, an seinem Sicherheitsgurt herumzuhantieren. Und auf einmal machte es „Plumps“, und der Leopold war verschwunden. Einfach weg. Hat sich von der Lehne geschmissen.
Die Ursula hat das nicht einmal bemerkt. Die schnurrte zwar nicht, sah aber auch aus, als würde sie das so richtig genießen. Und es dauerte ziemlich lang, bis sie draufkam, dass der Leopold von seiner Lehne verschwunden war. Der lag auf dem Boden hinter dem Beifahrersitz und sah ein wenig grün im Gesicht aus.
Das war aber das letzte Mal, dass er sich so aufgeführt hat. Seither nimmt er das alles viel lockerer. Er spielt sogar „Wer sieht den nächsten Bären zuerst?“ mit uns, und er ist ziemlich gut dabei. Allerdings wollte er die Spielregeln ändern. Ein Grizzly sollte nämlich mehr Punkte bringen als ein Schwarzbär, weil ein Grizzly größer ist.
Was soll denn das schon wieder? Es kommt nicht auf die Größe an! Stellt euch vor, dann wäre ja der Leopold unser Chef oder womöglich sogar die Ursula! Nein, das kann’s nicht sein. Ich bin hier die Chefin, und die Körpergröße ist irrelevant! Und Bär ist Bär, egal ob braun oder schwarz oder klein oder groß.
Ganz allgemein ist der Leopold in letzter Zeit lästig geworden. Schaut treuherzig in die Welt, ist bestens gelaunt, locker drauf und glaubt, mir sagen zu können, was ich zu tun habe. Ich meine, geht’s noch? Kann nicht einmal klettern und will anschaffen! Weil er meint, wenn ich schon auspacke, dann muss ich alles erzählen. Wie es wirklich war.
Ich erzähle euch eh immer alles. Ehrlich. Das, was die Ursula nicht erzählt. Dass sie neulich beinahe die Flüssigkeit für die Windschutzscheibe in den Behälter für die Bremsflüssigkeit gefüllt hätte, zum Beispiel. Das wäre eine schöne Bescherung gewesen! Zum Glück ist es ihr im letzten Moment doch noch komisch vorgekommen, und sie hat weitergesucht. Der Verschluss für die Windschutzscheibenflüssigkeit ist bei der Annie Way ziemlich versteckt, aber die Ursula hat ihn gefunden. Nicht, dass die Windschutzscheibe dadurch sauberer geworden wäre.
Der Leopold, der lästige Kerl, meint, ich muss auch das erzählen, was die Ursula gar nicht erzählen kann, weil sie es nicht weiß!
So ein Blödsinn, wo kämen wir denn da hin? Ich entscheide, was ich erzähle. Punkt.
Apropos, was die Ursula nicht weiß. Die Annie Way war ja kurzfristig hinten nicht dicht, und es hat auf die Matratze getropft, wenn es geregnet hat. Die Ursula hat sich mit den Dichtungen beschäftigt, und siehe da, bei den letzten Regengüssen war wieder alles in Ordnung. Die Annie Way ist wieder dicht. Vielleicht war es wirklich nur ein Steinchen oder sonst eine Verunreinigung, die bei unserer wilden Fahrt über den Top of the World Highway zwischen die Dichtungen geraten ist! Egal, wir müssen nicht alles wissen, Hauptsache, es tropft nicht mehr.
Unsere wundersame Sockenvermehrung hat eine Fortsetzung bekommen. Wir waren ja auf der Suche nach einer grün-blau-gestreiften Socke, aber es tauchte keine auf. Nicht dass die Ursula noch Socken brauchen würde, der Sockensack lässt sich fast nicht mehr verschließen, so voll, wie der ist. Aber rein prinzipiell, wenn man so als Socke auf dieser Erde wandelt und das ganz allein tun muss, dann ist das irgendwie eine halbe Sache. Als die Ursula neulich in Seattle Wäsche gewaschen hat, waren wir alle gespannt, ob die zweite grün-blau-gestreifte Socke endlich auftauchen würde. Die Ursula öffnete den Trockner – nichts. Als sie alles ausgeräumt und zusammengelegt hatte und gerade den Laundry Room verlassen wollte, kam ein Mann herein und öffnete den Trockner, in dem sich seine Wäsche befand. Und plötzlich hielt der eine grün-blau-gestreifte Socke in der Hand und schüttelte verwundert den Kopf. „Oh, that’s mine!“, sagte die Ursula mit Bestimmtheit und nahm sie ihm aus der Hand. Der Mann schüttelte noch verwunderter den Kopf, kam aber gar nicht dazu, etwas zu sagen, weil die Ursula schon auf dem Weg nach draußen war.
Jetzt haben wir noch ein Paar Socken mehr. Die Ursula hat bisher nicht einmal die dottergelben getragen. Ich vermute stark, dass sie die grün-blau-gestreiften auch nicht anziehen wird. Sie nimmt nur die schwarzen, gelegentlich die dunkelblauen, aber das scheint eher ein Versehen zu sein. Die mit den Bienen, von denen sie behauptet, dass es Hummeln sind, trägt sie auch. Wir werden sehen, wie das mit den dottergelben und den grün-blau-gestreiften weitergeht. Ich halte euch auf dem Laufenden.
So, Leute, damit bin ich mit meinem Bericht schon wieder am Ende.
Ja, doch. Der Leopold schaut mich gerade ziemlich streng an. Wenn ich nicht auspacke, meint er, dann wird er auspacken.
Was soll das? Erstens bin ich hier die Chefin, und er hat überhaupt nichts zu sagen. Zweitens kann er auspacken, so viel er will, solange er nicht an den Laptop kommt, ist das völlig egal. Und drittens, ich wiederhole es gern: Ich war noch niemals in New York. Nur weil der Leopold beinahe …, ich meine, der will sich nur aufspielen! Und weil er mehr Grizzlys gesehen hat als ich, will er, dass die mehr zählen. Wo kommen wir denn da hin? Der Leopold ist dafür da, um auf uns alle aufzupassen, damit uns nichts passiert, und nicht, um mit mir herumzukommandieren. Immerhin herrscht jetzt Frieden in der Br… Ich meine, er soll mich in Frieden lassen. Manchmal geht er mir faultierisch auf die Nerven, der feine Herr Löwe! Leopold der Lästige!
Ich sage euch, Leute, es ist nicht einfach, die Chefin einer Gang zu sein. Vielleicht sollten wir wirklich auf Band umsatteln. Wie gesagt, wir singen genial, solange die Ursula nicht mitsingt. Falls uns jemand engagieren möchte, ab November haben wir Termine frei. Wir kommen am 6. November in Hamburg an, die Ursula hat unsere Rückreise schon gebucht. Allerdings, wenn im Oberschrank wirklich was Goldiges drinnen ist, hätten wir die Singerei nicht mehr nötig. Es muss ja gar nicht straußeneigroß sein. Ein goldenes Entenei würde schon genügen. Oder ein Huhn, das goldene Eier legt!
Lasst es euch gut gehen. Und haltet mir die Daumen, dass in den nächsten zwei Monaten auch bei uns alles gut geht. Denn wenn der Leopold auspackt, kann ich einpacken.
Eure Sally
(Sally the Sloth, Executive Vice-President of The Lionfields Gang INC., NY/NY)