Dienstag, 22. August 2023: Ist es Kunst? Ist es Spiel?
Info:
Seattle liegt im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA, nur etwa 100 Meilen (160 km) südlich von Vancouver in Kanada. Mit 750.000 Einwohner:innen und vier Millionen Menschen in der Metropolregion ist es die größte Stadt Washingtons. Über den Hafen von Seattle wird vor allem der Handel mit Asien abgewickelt.
Die Zentralen verschiedener Weltkonzerne sind hier beheimatet, Starbucks zum Beispiel, Amazon, T-Mobile, Boeing, Adobe und Microsoft.
Meine Meinung:
Versucht einmal, euch eine Großstadt vorzustellen, die sauber ist und wo die Menschen mit Achtsamkeit mit dem öffentlichen Raum umgehen. Wo man gemütlich auf Gartenstühlen am Dock sitzen kann, das Mittagessen einnimmt und hört, wie am Nachbartisch ein Vater zu seinem fünfjährigen Kind sagt: „Schaffst du das schon, das allein wegzuräumen?“ Und das Kind nickt und trägt die Verpackung stolz zum Mistkübel. Ganz abgesehen davon, dass niemand die Gartensessel ruiniert oder beschmiert. Während des Essens schaut man zu, wie Jugendliche und Erwachsene bei den vielen Spielangeboten Spaß haben – und anschließend alles wieder dorthin zurückstellen, wo sie es genommen haben.
Die Stadt gestaltet den öffentlichen Raum so, dass sehr viel Platz für Kreativität, Muße, Spaß und Spiel zur Verfügung gestellt wird. Die Menschen nehmen die Angebote an und gehen sehr achtsam damit um.
Gleichzeitig mit den Spielmöglichkeiten im öffentlichen Raum wurde Kunst mitgedacht. Überall Skulpturen in den Parks, Überraschungen für die Augen und häufig für die Ohren. Wo sich keine Wohngebäude in der Nähe befinden, werden auch Klänge ins Kunst- und Spielerlebnis einbezogen. Das beginnt beim International Fountain, einem riesigen Springbrunnen mit Jazzmusik, und endet auf einem Spielplatz mit unzähligen Klangkörpern, wo Kinder und Erwachsene ausprobieren, wie sich etwas anhört.
Als ich das Labyrinth beim Museum of Pop betrat, waren wir etwa fünfzehn Leute darin, Alter zwischen Null und 62 (ich), die gingen, Scooter fuhren, im Kinderwagen geschoben wurden, hüpften, liefen – und Spaß hatten. Und so, wie der Spielplatz aussah, stellte ich mir die Frage: Ist es Spiel oder ist es Kunst? Wohl beides. Und vor allem: für jedes Alter!
Ob ich mich in Seattle wohlgefühlt habe? Viel Verkehr, aber davon abgesehen: ja, total!
Tagebuch:
Selbst in Seattle war am ersten Tag noch Rauch zu sehen, mehr als 300 km Luftlinie vom Okanagan Valley entfernt.
Im Reiseführer las ich vom City-Pass, mit dem man sich bei den wichtigsten Sehenswürdigkeiten viel Geld erspart und sich außerdem nirgendwo anstellen muss. (Anstellen scheint der amerikanische Volkssport zu sein. Geduldig anstellen, ist gemeint.) Ich vertraute diesem Rat, zahlte online 105 US-Dollar und reservierte die Zeiten, zu denen ich in die einzelnen Attraktionen eintreten wollte. Das ist zwar etwas, das ich normalerweise überhaupt nicht mag, weil ich lieber spontan entscheide, was ich mache, aber ich bin kein Fan von Warteschlangen.
Wäre nicht nötig gewesen, wie sich herausstellte. Und ich ging auch zu völlig anderen Zeiten hinein, ohne dass sich irgendjemand darum kümmerte. Das machte es schon wieder fast sympathisch.
Die auffälligste Attraktion in Seattle ist die Space Needle im Seattle Center, einem riesigen Gelände mit Museen und Parks. Die Space Needle sieht aus wie eine fliegende Untertasse auf einer Nadel. Sie wurde 1962 anlässlich der Weltausstellung in Seattle eröffnet – und gerade noch eine Woche vorher fertiggestellt. Von einer Höhe von 605 ft (184 m) hat man einen grandiosen 360°-Rundumblick über die Stadt. Man kann auch durch den Glasboden nach unten sehen … das ist wiederum Geschmackssache.
Neben der Space Needle befindet sich Chihuli Garden and Glass. Das war beim City-Pass dabei – zum Glück, denn sonst wäre ich da möglicherweise gar nicht hineingegangen.
Dale Chihuli, geboren 1941 in Tahoma südlich von Seattle, ist für seine Glaskreationen, aber auch für seine Bilder und Skulpturen berühmt. Die Stadt stellte ihm ein Grundstück zur Verfügung und ließ nach seinen Anweisungen ein Museum und ein Glashaus bauen und einen Garten anlegen.
Ich stand im Museum und konnte nicht glauben, was ich da sah. Die Wände haben übrigens eine ganz bestimmte Farbe: Chihuli-grau.
Die Ausstellung allein hätte den Besuch schon zu einem einzigartigen Erlebnis gemacht, aber es ging noch weiter: ins Glashaus. Schaut euch die Bilder an! Den meisten Leuten erging es wie mir, sie standen einfach da und staunten. Trotz der vielen Besucher:innen war es ganz ruhig im Raum.
Der Höhepunkt sollte aber noch kommen: der Garten. Häufig war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, was es war, Natur oder Kunst, Pflanze oder Glas. Immer wieder war der überraschte Ausruf zu hören: „Oh, it’s glass!“
Anschließend ging ich hinunter zum Meer und schlenderte an den Docks entlang. Dort liegt das Edgewater Hotel, das ebenfalls für die Weltausstellung 1962 gebaut wurde, aber auf Grund verschiedener Verzögerungen erst zwei Wochen nach deren Ende eröffnet werden konnte – ohne eine einzige Buchung. Die Fenster und Balkone gehen zum Meer hinaus. Um das Hotel bekannt zu machen, bot man den Gäst:innen an, von ihren Zimmern aus zu angeln. Der Werbegag hatte Erfolg, Fischer:innen aus der ganzen Welt wollten das ausprobieren. Zum Höhepunkt der Beatle-Mania gelang einem Paparazzo das Foto seines Lebens, indem er von einem Boot aus alle vier Beatles beim Fischen von ihren Zimmern aus erwischte. Da die Sache mit der Fischerei aber auf Dauer ziemlich unhygienisch wurde, verwarf die Hotelleitung diese Idee wieder.
Je näher man der Innenstadt kommt, desto lebendiger geht es auf den Docks zu.
Das Aquarium ist eine riesige Anlage mit Robben, Seeottern, Seevögeln, wirbellosen Meeresbewohnern bis hin zu Quallen. Selbstverständlich toll – aber ich hatte diese Tiere alle schon in freier Natur beobachtet. Ähnlich wie im Alaska SeaLife Center in Seward wird auch hier geforscht und Wissen vermittelt.
Einige Daten sind mir in Erinnerung geblieben über den einen Ozean – denn tatsächlich sind alle Meere miteinander in Verbindung. Damit quäle ich euch jetzt, weil ich es für beeindruckend halte. Der eine Ozean enthält 96,5 % des gesamten Wassers, das es auf der Erde gibt. 94 % allen Lebens auf unserem Planeten sind im Wasser zu Hause. Der Ozean macht 70 % der Erdoberfläche aus und 99 % des Lebensraums. Es gibt über eine Million bekannte Pflanzen und Tiere in den Meeren, wobei Wissenschaftler:innen damit rechnen, dass es tatsächlich über zehn Millionen sind. Ein einziger Tropfen Meerwasser enthält über eine Million Bakterien. Der Ozean reguliert das Klima und speichert CO2 oder gibt es in die Atmosphäre ab.
Die Durchschnittstiefe ist ca. 4.000 m. Licht kann nur ca. 100 m in die Tiefe dringen, was bedeutet, dass der Großteil des Ozeans komplett im Dunkeln liegt. Die mit über 55.000 km längste Bergkette der Erde zieht sich durch das Meer, ist höher als die Alpen und nimmt 23 % der Erdoberfläche ein. Bisher sind etwa 5 % des Ozeans erforscht. Oder, um es anders auszudrücken: Wir wissen so gut wie gar nichts über den Großteil unserer Erde.
Zurück zu Seattle. Das zeigte sich im Sonnenschein von seiner schönsten Seite, ich saß am Dock 62 und aß gemütlich Eis. Himmlisch!
Am zweiten Tag kämpfte ich mich wieder erfolgreich durch den vielen Verkehr in die Innenstadt, parkte beim Seattle Center und ging zu den Docks hinunter. Die Hafenrundfahrt stand dank City-Pass auf dem Programm – eine interessante Stunde, in der ich die Stadt vom Wasser aus betrachten konnte.
Beeindruckend auch die Kräne am Hafen und die Geschwindigkeit, mit der Container hochgehoben und befördert werden!
Auf dem Rückweg spazierte ich durch den Olympic Sculpture Park mit seinen interessanten Skulpturen. Viele Einheimische machen es sich dort im Schatten der Bäume gemütlich und genießen die Aussicht aufs Meer und die Kunstwerke.
Oben beim Seattle Center befindet sich auch das MoPOP, das Museum of Pop, in dem aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Pop-Kultur nachgegangen wird. Es gibt eine Dauerausstellung über Nirvana, eine Gitarren-Galerie, wo die (gelegentlich zertrümmerten) Original-Gitarren berühmter Musiker:innen ausgestellt sind, umgekehrt eine Ausstellung der bekanntesten Gitarren-Typen mit Listen der Musiker:innen, die sie verwendeten bzw. verwenden. Räume, in denen es um Gaming geht, Science-Fiction und Horror, Fantasy, Hip-Hop, die Science-Fiction Hall of Fame und viele andere Aspekte der Pop-Kultur.
Was ich besonders interessant fand, war das riesige Sound-Lab, wo Leute Instrumente ausprobieren können und wo es viele (schalldichte) Räume fürs Jammen und Proben gibt, aber auch Klangspielmöglichkeiten für Kinder. Das Museum unterstützt junge Musiker:innen mit unterschiedlichen Angeboten. Ich war am Nachmittag dort. Alle Räume waren besetzt. Kein Wunder, dass die Stadt für ihre Musikszene bekannt ist! Sie sorgt aber auch intensiv dafür, dass das so bleibt.
Übrigens kann man direkt mit der Monorail vom Stadtzentrum ins MoPOP fahren – tatsächlich, die Monorail hat eine Haltestelle im Museum!
Ich habe noch nie eine Stadt erlebt, die so viele Angebote für die Sinne bietet. Wo jeder Spielplatz ein Erlebnis ist – auch für Erwachsene. Wo man in Parks nicht weiß, was man zuerst betrachten soll, die Natur oder die Kunst. Eine Stadt, die einem Künstler ein Museum baut – nach seinen Wünschen -, und einen Garten dazu anlegt. Die Raum für alle Menschen bietet, egal, welche Interessen und Bedürfnisse sie haben. Die es sich zum Ziel gesetzt hat, dass man von jedem Wohnhaus aus innerhalb von zehn Minuten zu Fuß die nächste Parkanlage erreicht – was tatsächlich gelungen ist. Wo die öffentlichen Verkehrsmittel entweder gratis oder unglaublich billig sind. Wo Barrierefreiheit eine Selbstverständlichkeit ist.
Ja, es gibt Verkehrsstaus auf den zehnspurigen Autobahnen im Stadtzentrum. Und es gibt Gegenden, die nicht ganz so toll aussehen. Es gibt Menschen, die nichts haben. Die betteln müssen. Ja. Und Trump haben auch welche gewählt.
Ich will damit sagen, dass ich all diese Aspekte nicht vergesse. Aber in Summe war ich von der Stadt begeistert. Wie gesagt: Chihuli Garden and Glass wäre allein schon den Besuch von Seattle wert, denn Seattle ist so viel mehr als Wirtschaftsmetropole und Hafenstadt!