Dienstag, 30. Mai 2023: Von schlafenden Riesen, Donnervögeln und einem Bären.
Info:
Thunder Bay ist eine Stadt mit etwas über 100.000 Einwohner:innen, und wie jede Stadt in Nordamerika tut sie so, als sei sie viel größer, ganz einfach, weil alles so weit auseinander liegt. Selbst zusammen mit den Vorstädten bringt sie es nur auf 120.000 Menschen.
Thunder Bay wird auch als „Lakehead“ bezeichnet (See-Kopf), denn hier beginnt der St. Lawrence Seaway, die Wasserstraße, die die Großen Seen mit dem St. Lawrence Ästuar (!) und mit dem Atlantik verbindet. 199 Höhenmeter sind vom Lake Superior bis zum Atlantik zu überwinden. (Ich habe auf der Fahrt die Dämme bei Montreal gesehen – gewaltig!)
Durch seine Lage hatte Thunder Bay schon vor langer Zeit eine bedeutende Rolle als Treffpunkt der Völker aus Ost und West und als Handelsplatz.
Meine Meinung:
Es gibt Orte, da kommt man hin und fühlt sich wohl. Thunder Bay war so ein Ort für mich. Ich bin drei Tage geblieben, weil es mir so gut gefallen hat.
Tagebuch:
Wenn man vom Osten den Transcanada Highway in Richtung Thunderbay fährt, ändert sich die Landschaft komplett. Statt der Hügel gibt es plötzlich klippenartige Felsformationen, sodass es nicht mehr verwunderlich ist, wenn man beim ersten Blick auf den Lake Superior auch gleich einige Inseln mit Tafelbergen sieht. Am bekanntesten ist der Sleeping Giant, eine Insel, deren Hochebene an einen schlafenden Riesen erinnert.
An sich wollte ich jetzt ein wenig darüber erzählen, wie diese wunderschönen Landschaftsformen entstanden sind, scheitere aber schon an der Übersetzung von diabase, weil Diabas im Deutschen was anderes bedeutet als auf Englisch. Auf jeden Fall geht es um Vulkane, die nicht ausgebrochen sind, sondern wo das Magma schon vorher erstarrt ist. Im Ausbruch stecken geblieben. Lake Superior, der größte Süßwassersee der Erde, entstand in einem Grabenbruch, als sich vor über einer Milliarde von Jahren das, was heute der Nordamerikanische Kontinent ist, beinahe in zwei Teile gespalten hätte. Auf ähnliche Weise sind der Baikalsee und der Tanganyikasee im ostafrikanischen Grabenbruch entstanden. Nordamerika hat sich allerdings umentschieden, nach dem Motto: Lass uns zusammen ein großer Kontinent werden. Den letzten Schliff gab’s dann noch in der Eiszeit, die noch nicht so lange her ist, und weil schon dieses große Becken da war, hat es sich mit Wasser gefüllt. Für mein geologisches Herz ist das jetzt die kürzestmögliche Kürzestfassung überhaupt, aber es gibt noch eine Menge anderer Dinge über Thunder Bay zu erzählen.
Wir sind nämlich immer noch nicht in der Stadt angekommen, sondern unterwegs nach Westen. Kurz vor Thunderbay, mit Traumaussicht auf den Sleeping Giant und die Stadt, befindet sich das Terry Fox Monument.
Terry Fox (1958 – 1981) wurde durch seinen Marathon of Hope bekannt. Durch eine Knochenkrebserkrankung musste ihm im Alter von 18 Jahren ein Bein amputiert werden. Mit einer Prothese lief er ab April 1980 von Neufundland quer durch Kanada, um Spenden für die Krebsforschung zu sammeln. Anfangs fand er kaum Beachtung, aber als die Medien über ihn zu berichten begannen, wurde er schnell zur nationalen Berühmtheit.
Am 1. September 1980, nach 5.373 km, musste er bei Thunder Bay seinen Lauf vorzeitig beenden. Der Krebs war zurückgekehrt. Als er starb, waren bereits mehr als 24 Millionen Dollar an Spenden für die Krebsforschung eingegangen. Noch heute steht sein Name in Kanada für Mut und Hoffnung. Über 650 Orte veranstalten jedes Jahr im September den Terry Fox Run, weltweit wurden im Namen von Terry Fox bisher 800 Millionen Dollar für die Krebsforschung gesammelt.
Beim Terry Fox Monument befindet sich praktischerweise ein Tourist Information Center, und die Dame dort gab mir eine Menge Tipps, zum Beispiel, dass man beim Park an der Waterfront gratis parken kann und wo ich zum Mittagessen hingehen soll (Markthalle Goods & Co).
So gelangte ich problemlos in die Innenstadt – beim Verkehr merkt man dann doch, dass Thunder Bay keine echte Metropole ist -, ging spazieren, holte mir in der Markthalle mein Mittagessen und genoss den See.
Schließlich war mir nach ein wenig Natur, ich fuhr auf eine der Inseln beim Hafen, wo sich eine Conservation Area befindet, und ging eine Weile am See und im Wald spazieren. Ich bin noch nie von einem Eichhörnchen so lautstark beschimpft worden! Es ist ja normal, dass Eichhörnchen furchtbar schimpfen, wenn man sie beim Fressen stört, aber diese Lautstärke war mir neu.
Als ich zu Annie Way zurückkam, redete mich jemand auf Deutsch an. Ein Isländer, der in Deutschland gearbeitet hatte und jetzt in Kanada lebte. Ich erfuhr eine interessante Familiengeschichte. Dann kam noch ein junger Kanadier daher, der fragte, ob ich aus der EU sei und ob er meinen Pass sehen könnte. Da standen wir schließlich mit Blick auf den Lake Superior und die Inseln mit den Tafelbergen, ein Isländer, eine Frau aus Quebec, zwei Jungs aus Neufundland, ein junger Mann aus Ontario und eine Österreicherin, und erzählten von der Heimat, verglichen Kultur und Gebräuche, lachten viel, und zum Schluss, als ich endlich wegfuhr, bekam ich noch einen Glücksstein geschenkt, und ich versprach, ihn mit nach Österreich zu nehmen. Er ist orange-braun und schon der zweite Glücksstein in Annie Ways Ablagefach vorne beim Armaturenbrett. Ein dunkelgrüner Türkis von einer Freundin liegt neben ihm.
Weil ich schon im Süden von Thunder Bay war, beschloss ich, noch zum Mount McKay zu fahren. Der heißt in Wirklichkeit Anemki Wajiw, was in der Sprache der Anishinaabe Donnervogelberg bedeutet, teilte aber das Schicksal vieler Berge, deren Namen durch die weißer Männer ersetzt wurden – was in manchen Fällen wieder rückgängig gemacht wurde, beim Denali zum Beispiel. Und auch der Anemki Wajiw hat gute Chancen, denn sein ursprünglicher Name steht in Broschüren schon zuerst da, gefolgt von „auch bekannt unter Mount McKay“.
Ihr dürft euch gern bedanken, dass ich euch die Entstehung von Anemki Wajiw erspare. Fällt mir zwar schwer, aber …
Der Ausblick war jedenfalls wunderschön, und an der Diabase Sill zu stehen (nein, ich erzähl euch nicht, was das ist) und nach oben zu sehen, ließ mich verstehen, warum der Donnervogelberg für die Anishinaabe ein heiliger Ort war.
Ich erlebte in den drei Tagen, die ich in Thunder Bay verbrachte, zwei Gewitter, und in den Nachrichten hörte ich bei der Wettervorhersage den Sprecher sagen: „Well, it’s Thunder Bay, so …“ und dann kam die Gewitterwarnung.
Die Menschen, die schon vor Jahrtausenden hier lebten, haben sich vielleicht auch gedacht: „Well, it’s Anemki Wajiw, so …“
Am nächsten Tag MUSSTE ich einfach wieder zum Marina Park, und dann fuhr ich spontan zum Fort William Historical Park, der ursprünglich gar nicht auf meiner Wunschliste gestanden war.
Ein absoluter Glücksfall, denn die Damen und Herren, die dort die Geschichte auferstehen lassen, ließen mich vieles verstehen, was ich zuvor nicht wusste. Fort William war im 19. Jahrhundert der Hauptsitz der North West Company, die neben der Hudson Bay Company den Handel in Kanada organisierte. Die North West Company war im Jahr 1816, das im Park simuliert wird, die weltweit größte Handelsgesellschaft und unterhielt Trading Posts in ganz Nordamerika. Man brachte die Felle immer nur zum nächstgelegenen Trading Post, von dort wurden sie weitertransportiert.
Neben dem Handel hatte das Fort noch große Bedeutung als Treffpunkt der Völker. Der Handel selbst war von gegenseitigem Respekt geprägt und wurde auf indigene Art getätigt, sodass die Partner als Freunde auseinandergingen. Das Fell eines Bibers diente als Wertorientierung, eine rote Decke aus Europa war zum Beispiel drei Biber wert.
Was aber brachte zum Beispiel die Cree vom Athabasca River dazu, drei Monate lang nach Fort William zu reisen, um ihre Felle gegen die Güter der Weißen einzuhandeln? Die Antwort ist einfach: Sie hatten dadurch große Vorteile. Bei den Völkern der First Nation waren Textilien nicht bekannt. Kleidung aus Tierhäuten herzustellen war eine sehr schwierige, umständliche, zeitraubende und anstrengende Angelegenheit. Insofern zahlte es sich aus, die Felle der Tiere, die man sowieso fing, in Fort William abzuliefern. Wer zu dieser Zeit in Großbritannien etwas auf sich hielt und gesellschaftlich anerkannt sein wollte, musste einen Kastorhut tragen, hergestellt aus dem Unterhaar des Bibers.
Gleichzeitig mit den Fellen kamen die Händler von Montreal mit den Gütern aus Europa in Fort William an. Ihre Reise dauerte nur drei Wochen, war aber ebenfalls sehr anstrengend. So traf sich Ost und West zu einer Völkerverständigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Vor allem die Fertigkeiten der Frauen waren von höchster Bedeutung, sie konnten mit den Tierhäuten umgehen und zum Beispiel auch Schneeschuhe herstellen – für die europäischen Einwanderer eine Notwendigkeit. Und so mancher Buchhalter fragte bei verschiedenen Unpässlichkeiten lieber bei den indigenen Frauen nach als beim Herrn Doktor im Fort. Was verständlich ist, wenn man die Praxis des Arztes gesehen hat.
Die Fellbündel wurden gepresst und vernäht. Ein Bündel wog 40 kg, man trug immer zwei und war für sechs verantwortlich. Zwei Bündel nach vor, in Sichtweite ablegen, zurück, die nächsten zwei Bündel holen und so weiter. Biber waren am wertvollsten, deshalb waren in jedem Bündel immer die Hälfte Biberfelle und die andere Hälfte Bison, Bär, Hirsch, Fuchs, Wolf, Robbe etc., damit der finanzielle Verlust nicht zu hoch war, wenn ein Bündel verloren ging.
Die Anishinaabe lebten halbnomadisch, das heißt, sie folgten den Tieren, kehrten im Jahreszyklus aber immer wieder zu ihren Plätzen zurück. Deshalb ließen sie ihre Wigwams stehen. Im Unterschied zum Tipi, das aus Tierhäuten besteht und für die nomadische Lebensweise dient, ist ein Wigwam aus Birkenrinde gefertigt. Man kann Birken im Frühling häuten, ohne sie zu verletzen. Die Birkenrinde diente auch zum Bau von Kanus, mit denen die Felle transportiert wurden. Die Nähte wurden mit einer Mischung aus Baumharz und Fett abgedichtet, in der Gegend des späteren Fort McMurray schon damals mit Ölsand.
So viel zu Thunder Bay. Ich hab’s so richtig genossen. Übrigens blühten gerade die Buschwindröschen.
Auf der Weiterfahrt in Richtung Westen erlebte ich zwei Dinge, die ich unbedingt noch loswerden muss.
Das erste waren die Kakabeka Falls, auch Niagarafälle des Nordens genannt, wo sich der Kiministiquia River 40 m die Klippe hinunterstürzt. Ich blieb lang, wanderte zu allen Aussichtspunkten und genoss den Anblick. Und den Sprühregen! Und ich erzähle euch jetzt nicht, wie die Schlucht entstanden ist.
Das zweite war eine Begegnung der anderen Art, die ich eigentlich nicht erwartet hatte. Mein gerade aufgekommenes bäriges Selbstbewusstsein erlitt einen Dämpfer, als mir ein Schwarzbär über den (High)Weg lief. Er hatte zum Glück Respekt vor Annie Way, und ich bemerkte ihn rechtzeitig, sodass ich bremsen konnte und Annie Way langsam weiterrollen ließ. Bevor er im Wald verschwand, drehte er sich noch einmal um und sah uns an.
Es gibt doch Bären in Kanada. Verdammt!