Donnerstag, 29. Juni 2023, bis Mittwoch, 5. Juli 2023: Die ersten tausend Kilometer
Info:
Der Alaska Highway, ursprünglich Alaska-Canada Military Highway oder Alcan genannt, beginnt bei der Mile 0 in Dawson Creek in British Columbia und führt in nordwestlicher Richtung durch das Yukon Territory bis zu Mile 1422 in Delta Junction (Alaska), wo er offiziell endet, und weiter nach Fairbanks, wo das inoffizielle Ende ist.
Nach der Bombardierung von Pearl Harbor im Dezember 1941 nahm das US-Militär an, dass Alaska ein Ziel für eine japanische Invasion sein könnte, wodurch eine Straße nach Alaska eine militärische Notwendigkeit wurde. US-Präsident Roosevelt autorisierte den Bau im März 1942, und schon fünf Tage später wurde damit begonnen. Innerhalb von neun Monaten war der Alaska Highway fertig. 11.000 amerikanische Soldaten und 16.000 Zivilpersonen arbeiteten daran.
Man plante die Strecke entlang der existierenden Flugplätze zwischen Edmonton in Alberta und Fairbanks in Alaska. Gleichzeitig folgte der Alcan Highway bereits vorhandenen Wegen, Trails und Flüssen. Angefangen wurde an beiden Enden gleichzeitig.
Am 24. September 1942 trafen die US-Militär-Mannschaften zusammen, und zwar bei Mile 588 am Contact Creek.
Um den Bau in Kanada machen zu dürfen, bezahlten die USA alle Kosten und übergaben den Alaska Highway 1946 offiziell an die kanadische Regierung. Viele Verbesserungen waren nötig, bis der Highway 1948 zur öffentlichen Straße werden konnte. Mehrere Begradigungen bewirkten, dass die Strecke jetzt etwa 55 km kürzer ist als ursprünglich, sodass die historischen Meilenangaben nicht mehr mit den tatsächlichen übereinstimmen.
Die Historic Mile 0 in Dawson Creek ist ein Muss für alle, die den Alaska Highway fahren wollen.
Am bekanntesten sind zwischen Dawson Creek und Whitehorse die Orte Fort John, Fort Nelson (Mile 300, 454 km), Muncho Lake (Mile 456, 700 km), Liard River Hot Springs (Mile 477, 764 km) und Watson Lake (Mile 612, 980 km).
Tagebuch:
Von Prince George führte mich der Highway 97 nach Dawson Creek. Am Kreisverkehr, der das Stadtzentrum darstellt, befinden sich die Historic Mile 0 und der Bogen, der den Beginn des Alaska Highways symbolisiert. Beides wäre ziemlich unauffällig, würden nicht ständig Tourist:innen dort herumturnen. Zum Glück gibt es eine Extrazufahrt mit einem riesigen Parkplatz. Selfies werden gemacht, man überreicht sich gegenseitig die Kameras, unterstützt andere beim Erklimmen des Steinmonuments, wartet geduldig, bis man selbst dran ist und tauscht mit den Kolleg:innen die üblichen Floskeln aus. Kommt ihr vom Norden oder fahrt ihr in den Norden? Wie war’s?
Ich erfuhr innerhalb von fünf Minuten von vier verschiedenen, absolut zuverlässigen Quellen, dass ich den Top of the World Highway von Dawson Creek nach Tok in Alaska nie und nimmer bei Schlechtwetter fahren darf. Also, wenn ich mir unbedingt einbilde, ihn zu fahren, was ich mir noch einmal gut überlegen sollte, dann nur, wenn es mindestens einen Tag lang trocken war.
Die Zurückgekehrten legten ein heldenhaftes Verhalten an den Tag. Sie waren diejenigen, die es geschafft hatten. Wir anderen waren die Ahnungslosen. „Wie haben dir Seward und Homer gefallen?“, fragte ich einen der Highway-Helden. Ein Stottern war die Antwort. Nicht ganz so weit gekommen. Aha. Wie weit denn? Bis Tok. Okay, das liegt auch in Alaska. Gleich nach der Grenze. Aber ich werde mich hüten, darüber zu lachen. Ich bin noch immer in British Columbia. Bis Tok in Alaska liegt noch ein ganzes Stück Yukon Territory vor mir. Wer weiß, wie weit ich komme?
Ansonsten fällt Dawson Creek dadurch auf, dass es nichts zu bieten hat. Eine typische kanadische Kleinstadt ohne irgendwas. Tankstellen selbstverständlich, man ist ja am Anfang des Alaska Highways. Und Campingplätze für die Leute, die noch einen Tag brauchen, um den Mut zu finden, endlich loszufahren, so wie ich. Ein Mini-Museum. Restaurants. Geschäfte. Ein geschlossenes Visitorcenter. Und das war es auch schon.
Kaum hatte ich am Campingplatz Annie Way im Rückwärtsgang auf dem Back-in-Platz abgestellt (es gibt Pull-thrus für die Großen und Back-ins für die Kleinen), stand auch schon eine Frau da, deren Pickup schräg hinter mir geparkt war. Zuerst ging mir dieser Überfall ein wenig zu schnell. Wenn man ankommt, ist ein bisschen was zu tun. Aber dann setzte ich mich einfach mit ihr bei meinem Tisch hin (jeder Platz hat einen Tisch mit unbequemen Bänken) und ließ sie reden. Erst nach einigen Minuten fiel mir auf, dass ich diejenige war, die erzählte, und sie die Fragen stellte. Als ich den Spieß umdrehte, erfuhr ich eine interessante Lebensgeschichte. Die Dame, die demnächst ihren 80. Geburtstag feiert und immer noch acht Monate im Jahr im Camper lebt, ist die Schriftstellerin Joei Carlton Hossack, die 25 Bücher herausgegeben hat. Erfolgreich offensichtlich, denn sie erzählte von den Touren durchs Land mit Lesungen und Autogrammstunden, wo sie immer mit dem Camper unterwegs war.
Wieder so ein Glücksfall. Ich habe ihr zwei Bücher abgekauft und freue mich schon darauf, sie zu lesen. Aber noch wertvoller waren die Stunden, die wir im Schatten einer Cottonwood-Pappel auf der unbequemen Tisch-Bank-Konstruktion saßen und redeten. Was für eine Persönlichkeit! Thank you, Joei, and good luck. You are such an inspiring person!
Ich hatte für den nächsten Tag einen kleinen Campingplatz am Pink Mountain reserviert. Der lag wieder mal mitten im Nirgendwo, und da Annie Way und ich allein auf weiter Flur waren und von einem Eichhörnchen belästigt wurden, während ich ein wenig in Panik war, ob da nicht doch ein Bär seine Runden ziehen würde, ging ich auch kaum spazieren. Ein gemütlicher Nachmittag, und da das Internet funktionierte (!), kam ich endlich mit meinem Travelblog ein bisschen weiter.
Weil ich häufig nach den Bränden gefragt werde: Feuer ist in den borealen Wäldern hier eine Notwendigkeit und dient der Erneuerung und der Artenvielfalt. In einem Wald, der 100 bis 150 Jahre nicht gebrannt hat, verdrängen die Nadelbäume (vor allem Spruce, eine sehr schmale, hohe Fichtenart) alle anderen Pflanzen, weil sie ihnen das Licht nehmen. Damit finden die Tiere nichts mehr zu fressen und wandern weg. Ein gesunder Wald besteht aus Laubbäumen (Espen, Weiden, etc.) und Nadelbäumen (Black Spruce, White Spruce, Fichten und Kiefern; die Kiefern haben allerdings dasselbe Problem wie in Europa die Fichten mit dem Borkenkäfer, sie leiden unter der Trockenheit und den höheren Temperaturen). Besteht der Wald aus vielen Baumarten, gibt es auch die unterschiedlichsten Pflanzen am Boden, weil genügend Licht durchkommt – und damit Futter für die Tiere. Manche Bäume können sich ohne Feuer gar nicht vermehren, Redwood zum Beispiel.
Die außer Kontrolle geratenen Feuer im Norden Albertas und in Nova Scotia sind ein Produkt des Klimawandels durch die damit verbundene Dürre. Heuer sind in Kanada bereits neun Millionen Hektar Wald verbrannt – das Elffache des Durchschnitts des vergangenen Jahrzehnts. Der Jahresrekord von 1989 wurde schon jetzt übertroffen, und die Waldbrandsaison dauert noch mindestens drei Monate. 155.000 Menschen mussten bisher ihre Häuser verlassen. Der Rauch zog in die USA und sogar bis nach Europa.
Die Brände sind nicht nur eine Folge des Klimawandels, sie verstärken ihn auch noch. Pro verbranntem Hektar setzt der boreale Wald zehn bis zwanzig mal mehr CO2 frei als andere Ökosysteme.
Ich hatte bisher das Glück, in einem Land, das so groß ist wie ganz Europa zusammen und in dem nur etwas mehr als viermal so viele Menschen leben wie in Österreich, nie dort zu sein, wo es gerade brannte. Auch vom Rauch bekam ich nichts mit. Bis auf einmal, aber das war ein sehr kleines Gebiet.
Ich denke, es ist an der Zeit, nicht mehr vom Klimawandel zu reden, sondern von der Klimakatastrophe.
Fort Nelson war der nächste Stopp. Ein entzückendes kleines Museum, das einen Besuch wert ist, wenn man bereit ist, sich auf ein Sammelsurium von Dingen einzulassen, die in keinerlei Zusammenhang stehen. Jetzt weiß ich, dass der Cougar und der Puma und der Berglöwe ein und dasselbe Tier sind. Und wie groß so ein Puma ist! Meine Güte, den sollte man ernst nehmen!
Ansonsten fällt Fort Nelson dadurch auf, dass es nichts zu bieten hat. Eine typische kanadische Kleinstadt ohne irgendwas. Zwei Tankstellen selbstverständlich, man ist ja am Alaska Highway. Und ein Campingplatz für die Leute auf der Durchreise, so wie ich. Ein überdimensionales Visitorcenter, wo sie dir ausschließlich das Museum empfehlen können. Restaurants. Geschäfte. Und das war es auch schon. (Erinnert uns das jetzt an etwas?)
Fast. Am 1. Juli fanden dort nämlich die Meisterschaften in Hand Games statt. Das ist ein First Nation Spiel, bei dem getrommelt wird – sehr sehr laut getrommelt wird – und wo heimlich etwas weitergegeben wird. Die gegnerische Mannschaft muss erraten, wer das Ding gerade hat.
Die Games endeten kurz nach 22 Uhr. Draußen war es noch taghell. Anschließend wurde getanzt. Acht Männer trommelten und sangen, während unzählige Leute mit Stepp-Schritten in einem losen Gänsemarsch im Kreis gingen, sich dann an den Händen fassten und nach einem bestimmten System die Arme bewegten, bis das Ganze wieder von vorne losging. Alt und Jung machten mit, und als Zuseherin hatte ich das Gefühl, dass es hier um Gemeinschaft ging, um Verbindung. Wie schon Ed Jensen in Jasper gesagt hatte: It’s all about connection. Es geht um die Verbindung bzw. Verbundenheit. Mit allen Wesen und mit der Erde. Die Philosophie der Indigenous zeigt sich also sogar in ihren Tänzen. Und auch wenn der Lärmpegel durchaus mit der Zehn-Uhr-Pause einer gewissen Linzer Mittelschule mithalten konnte (dort braucht man allerdings keine Trommeln dafür), so waren diese Verbindung und Verbundenheit zu spüren. Ein schönes Gefühl.
Am nächsten Tag hab ich Annie Way mit einem Hochdruckreiniger gewaschen. Das heißt nicht, dass sie danach sauber war. Aber sauberer als vorher.
Ich wollte auch die Bettwäsche waschen. Leider fiel nach fünf Minuten der Strom für mehrere Stunden aus, was mir einen kleinen Dämpfer in der Tagesplanung versetzte. Machte aber nichts. Wer kümmert sich nicht gern von 14 bis 22 Uhr um die Wäsche? Ich musste auch noch das Bett überziehen – was in Annie Way durchaus eine akrobatische Leistung ist. Zum Glück habe ich zwei Garnituren Bettwäsche mit.
Am Morgen schaute ich aufs Handy, denn die Helligkeit draußen sagt so weit im Norden nichts über die Uhrzeit aus. Und siehe da – Internet! Das Stromproblem war also gelöst. Ich hüpfte aus dem Bett (um ehrlich zu sein, es ist eher ein Plumpsen von 1,30 m Höhe auf Annie Ways Boden), schnappte mir drei neue Loonies – wie die Ein-Dollar-Münzen heißen, weil sich darauf ein Loon, ein Reiher, befindet – und wusch die Wäsche. Als ich aus der Dusche kam, war sie fertig, und nach dem Frühstück hatte es auch der Trockner geschafft. Ich wunderte mich nur mehr kurz über die dottergelbe Socke, die da mit herauskam, aber da sie meine Größe hatte, nahm ich sie mit. Die zwei blauen Socken, die auch nicht mir gehören, freuen sich vielleicht über ein neues Team-Mitglied.
Ein Ehepaar aus New Jersey, das ebenfalls nach Alaska unterwegs war, hatte mir den Lake Muncho empfohlen, der auf der Strecke nach Liard River Hot Springs lag, wo ich die nächsten zwei Tage verbringen wollte.
Die Fahrt dorthin war … unbeschreiblich. Und zwar wirklich so, dass mir die Worte fehlen. Außerdem entpuppte sich der Alaska Highway als eine sehr zahme Landstraße. Selbst in den Bergen kommt man sich eher wie im Mühlviertel in Österreich vor, weil die Täler so weit sind, dass es kaum scharfe Kurven gibt. Für Annie Way, die im Mühlviertel Fahren gelernt hat, die leichteste Übung. Manchmal geht es durchaus ein wenig bergauf oder bergab, gelegentlich abwechselnd in so kurzen Abständen, dass es richtig lustig ist.
Und ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
Ein Moose (ein echter Elch, etwa so hoch wie Annie Way mit ihren 2,65 m) gab uns die Ehre, ein Bär-Baby, mehrere Mountain Sheep und alle möglichen Arten von Hirschen. Leider kein Bison. Oder soll ich sagen: Wie immer kein Bison? Allerdings waren so viele Warnschilder bezüglich Bisons aufgestellt, dass ich schon den Verdacht hatte, dass sie absichtlich davonrennen, bevor wir kommen.
Ich kam nicht recht weiter bei der Fahrt, weil ich bei jeder sich bietenden Möglichkeit stehen blieb und mir die Gegend ansah.
Wie so häufig in letzter Zeit ertönte dazu die „Playlist Annie Way“, 80 Songs, die meine Kolleginnen und Kollegen für mich zur Pensionierung zusammengestellt hatten. Ich singe dazu. Wer mit Gesang Bären verscheuchen will, muss üben.
Als ich am Lake Muncho entlangfuhr, wusste ich plötzlich, dass ich hierbleiben wollte. Ich fragte bei einem der Campingplätze nach, und tatsächlich, kurz darauf stand Annie Way auch schon mit Blick auf den See geparkt. Ich verbrachte viel Zeit am See, an dessen intensivem Grün und den umliegenden Bergen ich mich nicht sattsehen konnte. Eine längere Wanderung am Ufer entlang machte ich dummerweise mit den Trekkingsandalen, und wieder einmal hatte ich meine Bear Bell in Annie Way hängen gelassen, weil ich ja eh nur ein Stück gehen wollte …
Zwei Stunden später machte ich abrupt kehrt, als da etwas Großes, Schwarzes zu sehen war.
Nie wieder ohne Bear Bell und Bear Spray, versprach ich mir zum x-ten Mal. Wie kann eine, die so große Angst vor Bären hat, nur so unvorsichtig sein?
Und nie wieder mit den Trekking Sandalen in steinigem Gelände. Die Blase auf der Fußsohle hätte ich mir gern erspart.
Der nächste Tag begann mit einem Intelligenztest in der Dusche. Ich brauchte zwei Loonies, bis ich herausgefunden hatte, wie das Ding funktionierte. Aber dann duschte ich erfolgreich. Und beschloss, noch einen Tag am Lake Muncho zu bleiben.
Das Duschen war übrigens sinnlos, denn zwei Stunden später lag ich gemütlich im heißen Wasser der Liard Hot Springs mitten im Wald, den ich auf einem Pfad erreicht hatte, wo es hieß, dass es hier besonders viele Bären gab.
Sehnsüchtig dachte ich an meine Bear Bell, die wie immer griffbereit auf ihrem Platz in Annie Way hing, und an meinen Bear Spray, der wie immer griffbereit auf seinem Platz in Annie Way stand.
An den Hot Springs traf ich auch das Ehepaar aus New Jersey wieder, das mir den Lake Muncho empfohlen hatte. Sie erzählten von den unzähligen Bisons, die sie auf dem Weg hierher gesehen hatten.
Nun, in meinem Fall: Wie immer kein Bison.
Die Hot Springs sind natürliche Wasserbecken mitten im Wald, wobei der Alpha-Pool 50°C hat, also viel zu heiß ist, um sich darin aufzuhalten. Der zweite Pool, der weiter weg von der Quelle liegt, hat eine angenehme Temperatur.
Es gibt bei den Hot Springs sogenannte „Hanging Gardens“, Hängende Gärten, die durch die Kalkablagerungen des Wasserfalls entstanden sind und wo es tatsächlich aussieht, als hätte jemand sie gepflanzt – so viele Blumen blühen dort!
Auf der Rückfahrt befanden sich wieder einige Mountain Sheep auf der Straße. Und wie immer kein Bison.
Dachte ich. Aber da war plötzlich etwas Großes, Dunkles, und es war kein Bär. Mein erster Bison stand gemütlich am Straßenrand und fraß.
Und gleich darauf mein zweiter Bison. Und ein Bison-Baby. Und mein vierter Bison. Und …
Bei Nummer 30 hörte ich zu zählen auf.
Es gibt also doch Bisons in Kanada!
Wieder am Lake Muncho haderte ich kurz mit meinem Schicksal, dass ich am nächsten Tag wirklich weiterfahren musste.
Und da lag dieses Kajak. Der See war spiegelglatt, es war absolut windstill. Wann, wenn nicht jetzt?
Nach dreißig Kajak-freien Jahren konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, wie man das Paddel hält. Peinlich.
Hundert Ausreden, warum es völlig unmöglich war, dieses Kajak ins Wasser zu ziehen, mich hineinzusetzen und loszupaddeln. Als ich dann endlich den Mut dazu aufbrachte, war die Sonne am Untergehen, der Wind hatte eingesetzt und der See war nicht mehr spiegelglatt. Ha! Es sollte nicht sein! Aber nächstes Mal, wenn sich die Gelegenheit bietet, dann sofort. Ganz sicher! (Ich bin im Grunde meines Herzens wirklich feig.)
Für den nächsten Tag stand Watson Lake auf dem Programm. Dort gibt es den Sign Post Forest. Irgendwann im letzten Jahrtausend haben Tourist:innen aus aller Welt damit begonnen, in einem Wald Schilder auf Pfosten zu schrauben, entweder Ortstafeln (von denen manche aussehen, als wären sie geklaut), Nummerntafeln, selbst gefertigte Schilder – alles ist möglich. Mittlerweile liegt die Zahl bei über 100.000 und bietet ein buntes Bild. Und ist selbst zur Attraktion für Tourist:innen geworden.
Ich suchte über eine Stunde lang nach dem Ortschild von Leonding, das ich fotografieren wollte, weil ich zufällig weiß, wer es montiert hat. Ich fand Linz, St. Pölten, Ottensheim, Goldwörth, Salzburg, Ebensee, Maria Zell und unzählige andere österreichische Orte. Aber kein Leonding. Was auch ein Zufall gewesen wäre bei der Unmenge an Schildern. Ich ging sogar am Abend noch einmal hin. Ein Mann saß auf einer Bank und meinte zu mir: „Incredible, that a lot of garbage can be that beautiful.“ Unglaublich, dass eine Menge Müll so schön sein kann. So gesehen hatte er Recht. Leider ließ sich Leonding wieder nicht blicken.
Zwischendurch war ich im Northern Lights Center, wo man viel über die Aurora Borealis, die Nordlichter, erfährt. Benedict Cumberbatch quälte sich als Sprecher durch eine Reihe fachspezifischer Erklärungen. Ich unterhalte mich selten über chemische und physikalische Vorgänge im Inneren der Sonne und ihre Auswirkungen auf die Erde. Und noch seltener mache ich das auf Englisch. Zum Glück sind Fachausdrücke normalerweise international, sodass es dann gar nicht so schwierig war, alles zu verstehen, nachdem ich mich in Mr. Cumberbatchs Shakespeare-Englisch hineingehört hatte. Kurzfassung: Alle elf Jahre gibt es besonders starke Sonneneruptionen und dadurch auch besonders starke Nordlichter. Und alle 150 Jahre sind die Eruptionen so stark, dass sie zwar für uns Menschen ungefährlich sind, aber sich auf alles Elektrische auswirken. Flugzeuge zum Beispiel. Und jegliche Art moderner Kommunikation. Das letzte Mal passierte das 1859. So gesehen hat der 150-Jahre-Zyklus grad ein wenig Verspätung.
Fazit der ersten Tage am Alaska Highway:
Wer im Mühlviertel fahren kann, kann auch die 980 km von Dawson Creek nach Watson Lake fahren. Es ist ausschließlich Wald, unterbrochen von Bergen, Flüssen und Seen. Nur die Tiere sind ein wenig anders. Schwarzbären am Straßenrand, zum Beispiel, und zwar jede Menge. Und keine Kühe hinter elektrischen Weidezäunen, sondern Bisons auf und neben der Straße. Statt Rehen Elks, Moose, Cariboo und Mountain Sheep.
Die gefährlichsten Tiere sind wie immer die Eichhörnchen und Streifenhörnchen (squirrels und chipmunks). Die huschen knapp vor dem Auto über die Straße, und wenn man ihnen nicht ausweicht, würde man sie überfahren. Da Annie Ways Notbremsassistentin nur bei größeren Tieren reagiert, mussten wir einige gewagte Ausweichmanöver durchführen, um im Rückspiegel dann das Tierchen zu sehen, das fröhlich weiterhüpfte. Bisher waren Eichhörnchen und Streifenhörnchen meine Lieblingstiere. Neulich meinte ein Kanadier zu mir: „They are a pest!“ Ich bin langsam geneigt, mich seiner Meinung anzuschließen.
Ach ja, die Menschen, die ich treffe. Da sind viele dabei, die monatelang unterwegs sind, fast alle in Pension. Manche leben in ihrem Wohnmobil oder Wohnwagen. „We live where we park“, erklärte mir neulich ein Ehepaar. Und dann kommt eine, die allein unterwegs ist und deren Van noch dazu so eigenartige Nummernschilder hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass diesen Langzeitcampern mit der Zeit fad wird. Die Paare sind zwar zu zweit, aber auf Dauer ist Zwei keine besonders hohe Zahl. Also stürzen sie sich auf alles, was ihnen irgendwie neuen Gesprächsstoff bietet, wenn der hundertste See und der fünftausendste Bär das nicht mehr können. Das sind dann Annie Way und ich, wenn Annie Way gekonnt im Rückwärtsgang einparkt und ich vom Fahrerinnensitz springe (wohl eher plumpse). Manchmal wird mir das fast ein wenig zu viel. Sich dreimal täglich fremde Lebensgeschichten anzuhören, ist zwar nett, und bei fünf großen Problemen bedauernde „Oh“s von sich zu geben, ist auch nett, aber …
Aber das ist wohl der Preis dafür, dass ich auch total interessante Menschen treffe, die mich inspirieren, mich bereichern und meinen Horizont erweitern. Wie Gary, Joei, Anshu und Rachna zum Beispiel. Trotzdem könnten sie niemals meinen Sohn und meine Freundinnen und Freunde ersetzen. Ich habe sehr viele Gründe, Ende Oktober nach Hause zurückzukehren. Der wichtigste sind die Menschen. Vanlife auf Dauer könnte ich mir nicht vorstellen, auch wenn ich es jetzt für einen begrenzten Zeitraum total genieße.
Zurück zum Alaska Highway. Was den Verkehr betrifft … ja, es kommen uns schon Autos und LKWs entgegen. So alle zehn Minuten im Durchschnitt. Und gelegentlich überholt uns jemand. Wir fahren eher langsam, nicht die vorgeschriebenen 100 km/h, sondern meistens um die 90 km/h, weil ich mir die Gegend ansehen will und Annie Way dabei weniger Diesel braucht.
Hab ich erwähnt, wie schön die Gegend ist? Dass wir fast nicht weiterkommen, weil ich so oft stehenbleibe, um alles in Ruhe zu genießen? Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich auf einem Hügel gestanden bin, mich umgesehen habe und den Kopf geschüttelt habe, weil es schon wieder unglaublich war. Einfach atemberaubend schön.
So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Ich hätte mir nämlich gar nicht vorstellen können, dass es so überwältigend sein würde.