Hallo Leute!
Halbzeit! Könnt ihr euch das vorstellen? Es ist Halbzeit für uns. In drei Monaten verschließt uns die Ursula wieder im finsteren Oberschrank von der Annie Way, und sie wird dabei ein total schlechtes Gewissen haben, weil wir mindestens einen Monat, wahrscheinlich länger, in Dunkelhaft sitzen werden. Das werden wir ihr erfolgreich einreden. Hat ja bei der Herfahrt auch geklappt. In Wirklichkeit hatten wir viel Spaß. Aber das sagen wir der Ursula nicht. Es ist nämlich schön, bedauert zu werden.
Im Moment steht die Annie Way bei einer Goldmine, die zwar schon seit Jahren stillgelegt ist, aber im Bach holen sich einige professionelle Goldwäscher:innen immer noch ihren Lebensunterhalt heraus. Tourist:innen zahlen 25 $ Eintrittsgeld, bekommen die Ausrüstung und dürfen es auch probieren. Von unserem Platz aus sehen wir ein Plakat, auf dem steht, dass man sich alles behalten darf, was man findet, und dass ein Tourist letztes Jahr ein hühnereigroßes Nugget in seiner Pfanne hatte!
Während die Ursula also ihr Glück versucht, habe ich Zeit, euch alles zu erzählen, wie es sich wirklich ereignet hat. Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Inzwischen sind wir – wie ihr ja wisst – in Alaska. Und da ist es vorbei mit der Kanada-Entspanntheit. Die Leute sind ganz anders. Die erzählen uns dauernd, wie toll sie sind. Da hört die Ursula zu, gibt ein gelegentliches „You don’t say so!“ oder „Oh, wow!“ von sich und versucht, ein Gähnen zu unterdrücken.
Zumindest ist die Landschaft wunderschön. Sagt auch der Leopold. Seit er sieht, wo wir sind.
Wir haben nämlich einige Änderungen in der Sitzordnung der Gang vorgenommen. Das begann in Dawson.
Die Leona Löwenfeld macht der Ursula zwar sehr viel Mut – manchmal zu viel, habe ich den Eindruck -, aber normalerweise redet sie nicht. Auch zu Leopold, als die beiden noch ihre intensivere Phase hatten, hat sie nie ein Wort gesagt. War damals aber auch nicht nötig. Auf jeden Fall, als wir in Dawson auf dem Campingplatz standen und die Ursula gerade mit einem zweiten Hut von einem Stadtbummel zurückkam, schaute die Leona den Leopold plötzlich von der Seite her an und sagte laut und deutlich: „Lass uns Freunde sein.“
Der Leopold schaute treuherzig zurück und antwortete genau so laut und deutlich: „Das ist eine gute Idee.“
Ein bisschen schien es mir, als hätten sie es vorher geprobt, denn während die Hilde und ich fast von der Rückenlehne der Sitzbank kippten, weil Leona ihren ersten Satz gesprochen hatte, schien der Leopold überhaupt nicht verwundert.
Die Ursula hat sofort kapiert, worum es ging. „Leona, möchtest du wieder auf deinem früheren Platz sitzen, zwischen den Kopfstützen auf der Rückbank bei Sally und Hilde?“
Die Leona hat eifrig genickt, und im nächsten Moment saß sie heroben bei uns, wieder mit Ausblick. Ab da spielten wir „Wer sieht den nächsten Bären zuerst?“ zu dritt.
„Ja, Leopold, dann bist du jetzt der Einzige, der vorne sitzt“, meinte die Ursula. Der Leopold grummelte etwas in seine Mähne hinein.
Für die Fahrt nach Alaska auf dem Top of the World Highway wurden wir extra gesichert, wie immer mit violetten Bändern. Nur der Leopold nicht. Der ist so schwer, dass er sich nicht einmal bei einer Notbremsung bewegt. Glaube ich zumindest. In Nordamerika hatten wir ja noch keine richtige Vollbremsung. Nur einige starke wegen der ver … süßen Squirrels und Chipmunks, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, knapp vor uns über die Straße zu rennen. Da hat die Ursula die Annie Way ein paarmal so verrissen, dass wir richtig ins Schleudern gerieten. Dann ist sie aufs Gas gestiegen, und schon war die Annie Way wieder dort, wo sie sein sollte.
Der Top of the World Highway. Das war so ein eigenes Kapitel. Leute, ich sage euch, da hätten wir alle unsere Sünden abgebüßt, wenn wir welche gehabt hätten. Anfangs ging’s ja noch, die Ursula ist ganz langsam bergauf durch den Nebel gefahren. Aber kaum waren wir über der unteren Wolkenschicht und wollten diese grandiose Aussicht in Ruhe genießen – Berggipfel einer nach dem anderen, bis zum Horizont, und alle ein Stück unter uns -, da hat sich die Ursula an Australien erinnert und ist aufs Gas gestiegen. Obwohl wir in unseren Sicherheitsbändern hingen und uns nichts passieren konnte, waren wir mit der Zeit dann doch ein bisschen verkrampft. Fast habe ich den Leopold beneidet, der nicht wusste, was sich da abspielte, und schmollte, weil er der Einzige war, der nicht gesehen hat, mit welchem Tempo die Annie Way am Rande des Abgrunds dahingeschrammt ist.
Die Grenzbeamten haben sich mit der Ursula unterhalten. Allerdings haben sie nicht nach unseren Papieren gefragt. Das ist Faultierdiskriminierung! Die Ursula hat nämlich einen Stempel bekommen. Und wir nicht!
Seither sind wir in Alaska. Um ganz ehrlich zu sein: Ja, es ist schön. Unglaublich schön sogar. Aber im Yukon war es auch unglaublich schön, UND es war gemütlich.
Die Ursula lässt sich aber auch hier nicht aus der Ruhe bringen. Nur manchmal passt sie nicht wirklich auf uns auf. Bei den Moschusochsen zum Beispiel. Da musste Annie Way ganz nah am Zaun des Geheges stehen. Ich meine – stellt euch das einmal vor! Wenn so ein Moschusochse plötzlich beschlossen hätte, auf die Annie Way loszugehen! Das hätte uns ganz schön durchgeschüttelt!
Apropos durchschütteln. Die Trockner-Geschichte ist weitergegangen. Der letzte Stand war ein zusätzliches Paar dunkelblauer Socken. Und dann ist die Ursula eines Tages mit einer einzelnen dottergelben Socke dahergekommen. Das war noch am Alaska Highway im Yukon. Naja, wenn sie meint. Ich würde dottergelbe Socken niemals tragen, und eine allein lässt mich ein wenig ins Grübeln über den Sinn des Lebens kommen. Zum Glück hat die Ursula in Fairbanks wieder gewaschen, und was kam aus dem Trockner? Die zweite dottergelbe Socke. Und eine blau-grün-gestreifte. Bin schon gespannt, wo wir die dazugehörige zweite finden. Wenn mich nicht alles täuscht, hat die Ursula über zwanzig Paar Socken mit. Warum auch immer. Und sie werden immer mehr.
Gestern sind wir mit Blick auf einen Gletscher gestanden, während die Ursula eine Schifffahrt gemacht hat. Das war schön. Der Leopold war völlig aus dem Häuschen.
„Der Leopold?“, werdet ihr fragen. „Der sieht doch nichts!“
Doch, jetzt schon. Die Ursula hat ihn kurzerhand auf die rechte Armlehne seines Sitzes gesetzt und ihn angeschnallt. Mit dem richtigen Sicherheitsgurt. Dort hat er es zwar nicht ganz so bequem wie auf der Sitzfläche, aber er sieht, wo wir hinfahren. Das macht ihn ein wenig nervös, weil er es ja nicht gewöhnt ist. Die Hilde, die Leona und ich sind Profis als Beifahrerinnen, aber der Leopold hat das noch nie gemacht. Als er gestern zum dritten Mal „Vorsicht!“ brüllte, weil er dachte, die Ursula übersieht etwas, da ist sie kurz etwas ungeduldig geworden. „Entweder du bist ruhig beim Fahren, oder du sitzt wieder unten.“
Seither schweigt sich der Leopold tapfer aus. Aber recht glücklich ist er nicht mit seiner Situation, nicht einmal entspannt genug, um mit uns „Wer sieht den nächsten Bären zuerst?“ zu spielen. Ich hab ihm gesagt, er kann der Ursula ruhig vertrauen. Wer den Top of the World Highway bei Regen in vier Stunden fährt statt bei Sonnenschein in acht, schafft alles andere hier auch. Locker.
Ein Regenproblem hatten wir aber trotzdem. Das heißt, nicht wir, aber die Ursula. Annie Ways Hintertüren sind nicht dicht. Und obwohl die Ursula schon mehrmals alles überprüft hat, ob bei den Dichtungen vielleicht irgendwo etwas verschmutzt ist oder ein Steinchen sich versteckt oder was auch immer – es tropft rein. Auf die Matratze. Und das mag die Ursula nicht. Obwohl es ein nettes, sehr beruhigendes Geräusch ist.
Jetzt hat sie eine Lösung gefunden. Da sich die Annie Way nicht abdichten lässt, hat die Ursula ihre wasserdichte Picknickdecke hinten im Innenraum zwischen Bett und Türen angebracht. Die Picknickdecke hat sie bisher ohnehin nur ein einziges Mal in Verwendung gehabt, als sie sie jemandem als Unterlage für ein kleines Kuppelzelt geliehen hat. Jetzt ist sie endlich im Einsatz. Dass sie an Annie Ways Hintern klebt, könnte man zwar als Zweckentfremdung interpretieren, man könnte der Decke aber auch zu ihrer Fähigkeit zum Multitasking gratulieren.
Ansonsten geht’s der Annie Way gut. Zwischendurch sagt sie der Ursula öfter, dass sie den Motor überprüfen lassen soll, aber das hatten wir voriges Jahr in Norwegen auch, und als die Ursula dann drohte, sie würde die Annie Way auf der Rückreise in Deutschland zum ADAC schicken, wenn sie nicht zu zicken aufhört, war augenblicklich Schluss mit dem mimosenhaften Getue. Hier funktioniert das genauso.
Zwei kleine Steinschläge hat die Annie Way auf der Windschutzscheibe, kaum sichtbar, und das, obwohl die Ursula auf Schotterstraßen immer einen riesigen Sicherheitsabstand hält. Die lässt die Ursula aber nicht reparieren, weil da noch ein paar mehr dazukommen werden. Dann zahlt es sich wenigstens aus. Und womöglich braucht die Annie Way ohnehin eine neue Windschutzscheibe, wenn wir nach Hause kommen.
Etwas sehr Positives hat sich auch ereignet. Die Ursula hat zu singen aufgehört. Und hat außerdem ihre eigenen Lieblingssongs – sofern sie nicht ohnehin schon auf der „Playlist Annie Way“ drauf waren – auf den schraubenförmigen USB-Stick geladen, der von der Navita herunterbaumelt. Jetzt haben wir eine Auswahl, die fast 400 km reicht, bevor alles wieder von vorne losgeht. Und solange die Ursula nicht mitsingt, ist das sogar ziemlich cool.
Leute, ich kann’s nur wiederholen: Die Zeit vergeht viel zu schnell. Und in drei Monaten sitzt die Gang wieder im dunklen Oberschrank … furchtbar, wir sind ja so arm!
Apropos arm. Die Ursula ist gerade vom Goldwaschen zurückgekommen und hat recht fröhlich ausgesehen. „Sally, ich brauch nie wieder arbeiten!“, hat sie gesagt und etwas, das in mehrere Taschentücher gehüllt war, ganz schnell im Oberschrank verschwinden lassen. In unserem Oberschrank. Da will ich gefälligst wissen, was das ist! Ein spatzeneigroßes Nugget? Oder ein hühnereigroßes wie das vom Vorjahr? Oder ein gänseeigroßes Nugget? Oder straußeneigroß?
Ich will in den Oberschrank! Auf der Stelle! Ich will wissen, was sich da oben verbirgt! Aber ich schätze, da werde ich wohl noch drei Monate warten müssen. Die Zeit vergeht hier viel zu langsam!
Wir sind wieder am Meer. Diesmal am anderen. 12.500 km haben wir in diesen 85 Tagen zurückgelegt. Im Durchschnitt also 150 km pro Tag. Die eigentliche Strecke war kürzer, aber wir haben uns ja überall noch die Gegend angesehen. Die Ursula hat am Anfang gemeint, wir werden durchschnittlich 1000 km pro Woche fahren – und das stimmt nach zwölf Wochen ziemlich genau. Aber mit unserem Zeitplan sind wir ein wenig hinten. Ich werde die Ursula und die Annie Way wohl ein bisschen antreiben müssen.
Ja, so ist das, wenn man die Chefin einer Gang und eines Unternehmens ist. Die Verantwortung ist fast erdrückend. Neulich meinte jemand in Whitehorse: „Was, ihr seid die Lionfields? Ihr seid doch die, die im April die Bronx aufgemischt haben! Habe ich in Deutschland gelesen. Hier versteckt ihr euch also!“
Ich hab’s schon hundertmal gesagt: Das waren nicht wir! Wir saßen im Oberschrank eines Campervans im untersten Deck eines Roll-on-Roll-off-Containerschiffs und waren mitten auf dem Atlantik zu diesem Zeitpunkt. Und wir waren so arm da drin, es war finster, es war kalt, und seekrank waren wir auch die meiste Zeit! – Was hätten wir nicht darum gegeben, stattdessen in New York zu sein! Obwohl dort so viel Verkehr ist, dass der Leopold fast … ich meine, ich hab’s ja schon gesagt: Ich war noch niemals in New York. Wirklich.
Ich muss in diesen Oberschrank und rausfinden, was da drin versteckt ist!
Genießt den Sommer, Leute! Und passt auf euch auf! Und falls jemand eine Idee hat, wie ich in den Oberschrank komme, lasst es mich wissen!
Eure Sally
Sally, du packst aus- Ursula packt ein. Einmal sind es Findlingssocken, dann Geheimnisvolles in Tüchern und in 3 Monaten packt sie dich und die Gang in den Oberschrank… Du kannst es wohl gar nicht erwarten da reinzukommen?! Ich weisz auch nicht, was Ursula da im Schrank weggepackt hat, ehrlich! Fast ehrlich… Jedenfalls wirst du bei der Überfahrt genug Zeit haben es herauszufinden. Ich vermute, dass Ursula euch mit Reisekaugummi ausstatten wird, der hilft fegen Seekrankheit. Dann werdet ihr eine gute Zeit haben im Oberschrank u euch über alles Erlebte gut gelaunt austauschen. Die Elche werden noch gröszer in der Erinnerung, die Kurven kurviger u Ursulas Gesang werdet ihr als Oden an die Freude im geistigen Ohrwaschl klingen hören! Bis dahin wünsche ich euch noch viele weiterr tolle Eindrücke!!!!