Freitag, 19. August 2022: Andenes auf Andoya
Info:
Andoya ist die nördlichste Insel der Vesteralen und für Moltebeeren und das größte zusammenhängende Moorgebiet Norwegens bekannt. Eine geologische Besonderheit ist ein Steinkohlevorkommen.
Während der letzten großen Vereisungsphase war Andoya nicht von Gletschern überlagert. Dadurch konnten sich Pflanzen von hier aus schnell verbreiten, als das Eis zurückwich. Aber auch einige Tierarten verdanken es Andoya, dass sie nicht ausstarben. Noch heute ist die Biodiversität auf Andoya einzigartig.
Schon vor 11.000 Jahren siedelten sich hier Menschen an.
Andenes liegt am nördlichen Ende von Andoya. War es früher der Walfang, so sind es jetzt die Walbeobachtungen, die die Wirtschaft beleben.
Westlich von Andenes liegen das Raumfahrtszentrum Aurora mit einer Raketenabschussbasis und einem geophysikalisches Observatorium.
Meine Meinung:
Schön – schöner – Andoya!
Andoya ist nicht so spektakulär wie andere Plätze in Norwegen und insofern für mich genau richtig. Pottwale zu sehen ist auf jeden Fall ein unvergessliches Erlebnis. Ich habe keine Fotos von den Walen, aber sie sind im Video zu sehen, wenn auch – den hohen Wellen entsprechend – etwas verwackelt.
Video:
Tagebuch:
Ich kam nach Andoya. Und plötzlich fühlte ich mich zu Hause. Die Moorlandschaften, die Hügel und Berge, dazwischen die Ebenen, es war ein wenig wie auf den Hebrides in Schottland. Ich besitze ein kleines Grundstück auf den Orkneys, aber Andoya ist noch schöner, finde ich. Ob den Menschen in Norwegen klar ist, auf welchen Schätzen sie sitzen? Die Moore dieser Erde speichern mehr CO2 als alle Bäume der Welt zusammen.
Weiße Sandstrände, wieder mal Berge, die aussehen, als wären sie von Trollen hingeworfen worden – ich wusste sofort, hier könnte ich es lang aushalten. Nun, das war vorgestern, und ich bin immer noch da.
Der Campingplatz liegt an einem dieser weißen Sandstrände, und ich schaue jetzt beim Schreiben aufs Meer hinaus. Naja, zwischendurch schon auf den Bildschirm, aber immer wieder aufs Meer.
Vorgestern ging ich dann noch in die Stadt Andenes, deren Zentrum durch die vielen verlassenen und dem Verfall preisgegebenen Häuser auf der Hauptstraße ein wenig traurig wirkt. Ich erkundigte mich, ob die Walsafari am nächsten Tag stattfinden würde, aber das wird erst immer im letzten Moment entschieden. Schließlich sei die See sehr rau wegen der Stürme in den vorangegangenen Tagen.
Kurz schoss mir der Gedanke an Seekrankheit durch den Kopf. Nicht schön. Wirklich nicht schön. Auch wenn ich selbst eher resistent bin, aber wenn neben dir jemand seekrank wird und noch jemand und noch jemand, dann ist es irgendwann womöglich mit der eigenen Resistenz auch vorbei. Kann zumindest sein.
Norwegens SpaceCenter Aurora liegt übrigens ganz in der Nähe des Campingplatzes von Andenes. Da starteten sie doch vorgestern glatt eine Rakete. Und gestern auch. Ganz schön laut und beängstigend, wenn man nicht weiß, was los ist. In Zeiten wie diesen könnte es durchaus sein, dass jemand zurückschießt.
Gestern war es dann so weit. Ich ging in der Früh zum Duschen, um festzustellen, dass ich keine Zehn-Kronen-Münzen fürs Warmwasser besaß. Also duschte ich kalt. Eiskalt. Das hätte ich in Annie Way auch haben können, so ohne Boiler.
Man sollte sich warm anziehen, hatte es geheißen. Strumpfhose unter den Jeans, Winterjacke, darunter mehrere Schichten, Halstuch, Haube. Leider keine Handschuhe, die hätte ich brauchen können. Aber immerhin, kalt wurde mir nicht.
Ich hatte die Fahrt um 11:00 Uhr gebucht und musste um 9:15 beim Check-in sein. Erst um diese Zeit gab der Kapitän bekannt, ob er fahren würde. Er würde, aber wir sollten wissen, dass die See sehr rau sei und dass jemand, der Angst hatte oder leicht seekrank wurde, lieber auf einen anderen Termin umbuchen oder stornieren sollte. In diesem Fall würde man das Geld sofort zurückbekommen.
Ein Ehepaar aus Stuttgart, das zufällig dieselbe Walsafari gebucht hatte wie ich und das am Campingplatz seit gestern mit dem – pfui! – Wohnmobil neben Annie Way stand, diskutierte, was sie machen sollten. Die Frau entschied sich fürs Stornieren, sie hatte zu große Angst vor den Wellen. Der Mann fuhr allein mit.
Um 9:45 Uhr begann die Führung durch das Museum, nach Sprachen in Gruppen aufgeteilt. Für Deutsch war ein Herr zuständig, den man in Norddeutschland – woher er wahrscheinlich stammte – durchaus als Seebären bezeichnen würde. Es gelang ihm in kürzester Zeit, uns in das Leben der Pottwale einzuführen und uns einen Eindruck über diese Tiere zu vermitteln.
Und: Jetzt weiß ich auch, dass die angeblichen Delfine am Ofotfjord keine Delfine waren, sondern Schweinswale. Das sind Wale, die nur 1,90 m lang werden. Auf einer Darstellung erkannte ich auch die Rückenflossen wieder, die mir für Delfine zu wenig gebogen gewesen wären. Offensichtlich ist es in Norwegen fast unmöglich, am Abend am Strand keine Schweinswale zu sehen – zumindest nach Aussage unseres Guides.
Die raue See machte ihrer Bezeichnung mit Fünf-Meter-Wellen alle Ehre, und ich wage zu behaupten, dass mehr als die Hälfte der Passagiere sich der Seekrankheit hingab.
Ich hielt es aus, indem ich in Richtung der Wellen schaute, die auf uns zurollten. Es war wunderschön, aber ein bisschen weniger Seegang wäre durchaus gemütlicher gewesen. Außerdem musste der Kapitän wegen der hohen Wellen den Motor drosseln, sodass wir nur langsam vorankamen.
Etwa zehn Kilometer nördlich von Andoya beginnt der Bleik-Canyon, ein 2400 m tiefer Graben. Für Pottwale, die in einer Tiefe von bis zu 1000 Metern am liebsten nach Riesenkalmaren jagen, ein ideales Jagdgebiet. Ein Pottwal frisst pro Tag eine Tonne, und ein Riesenkalmar wiegt eine Tonne – welch netter Zufall.
So ein Kalmar hat insgesamt zehn Arme, acht davon werden drei Meter lang, zwei sind zu Tentakeln umgewandelt und werden bis zu zehn Meter lang. Seit wir „Fluch der Karibik“ gesehen haben, wissen wir, was so ein Tier mit einem Piratenschiff anfangen kann. Allerdings leben sie in Wirklichkeit gar nicht in der Karibik, sondern bevorzugen kühlere Gewässer. Und ziehen auch keine Schiffe in die Tiefe. Heißt es.
Wale sind Einzelgänger. Auf einer Safari lauscht der Kapitän nach dem Klicken eines Pottwals. Dadurch weiß er, wo das Tier ungefähr auftauchen wird, und fährt dort hin. Der Wal bleibt dann etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten an der Oberfläche, um anschließend für mindestens 45 Minuten auf eine Tiefe von einem Kilometer abzutauchen. Wenn er abtaucht, ist die Schwanzflosse zu sehen. Er krümmt sich zuerst, dadurch erkennt man, dass es nun zum Abtauchen kommt. Während der Pause an der Oberfläche bläst er etwa alle fünfzehn Sekunden.
Ab einer Tiefe von 200 Metern gibt es kein Licht mehr. Der Pottwal klickt, um sich zu orientieren und seine Beute zu finden. Der Schall, der zurückkommt, zeigt ihm, was in der Nähe ist. Handelt es sich um ein mögliches Beutetier, dann wird das Klicken sehr schnell und erreicht eine Stärke von bis zu 245 Dezibel, also einen Geräuschpegel, der die Beute wahrscheinlich lähmt, und der das lauteste Geräusch ist, das ein Lebewesen auf der Erde erzeugt. Der Schädelknochen des Pottwals besteht nur aus dem Oberkiefer, dem Unterkiefer und einer satellitenschüsselartigen Rückwand, die zur Verstärkung des Schalls dient. Dadurch ist das Luftloch zum Atmen auch ein wenig seitlich nach links versetzt. Das Hörorgan liegt im Unterkiefer. Darauf befinden sich Zähne, nicht um zu kauen, sondern um die Beute festzuhalten. Der Kopf des Pottwals misst etwa ein Drittel seiner Gesamtlänge. In dem Organ, das die Klickgeräusche im Kopf erzeugt, befinden sich etwa 700 Liter Öl im oberen Bereich und auch noch Öl im unteren Bereich in einer Anzahl von linsenförmigen Gefäßen, die die Schallwellen verstärken.
Weibchen werden bis zu dreizehn Meter lang, Männchen bis zu zwanzig Meter. Sie haben auch das größte Gehirn im Tierreich: Es wiegt sechs bis neun Kilogramm. Insgesamt ein Tier, das mit vielen Superlativen aufwarten kann.
Interessant fand ich, dass die Hinterbeine des Landtieres, aus denen sich die Wale vor etwa 35 Millionen Jahren entwickelt haben, noch immer im Skelett vorhanden sind, allerdings ohne Verbindung zu anderen Knochen und nur in der Größe eines menschlichen Wadenbeins. Die Vorderflossen sind fünf-fingrig, wobei die Wale von einem Säugetier abstammen, das ein Paarhufer war.
So viel zu den Pottwalen. Und wir fuhren auf rauer See hinaus, um welche zu sehen. Wegen der hohen Wellen dauerte die Fahrt etwas länger, und erst nach etwa eineinhalb Stunden kam vom Kapitän die Nachricht, dass die Mikrofone des Schiffs ein Klicken aufgenommen hatten. Er änderte daraufhin den Kurs, um den Wal zu finden.
Was wir dann fanden, war nicht ein Wal. Sie sind ja Einzelgänger, wie gesagt.
Es waren auch nicht zwei Wale. Um es kurz zu machen, es waren fünf. Und wir sahen sie aus nächster Nähe. Da war nämlich ein Fischerboot, und die Wale waren offensichtlich am Kabeljau interessiert.
Sie lagen da, im Wasser knapp unter der Oberfläche, riesengroß, bliesen alle fünfzehn Sekunden, und es schien, als würden sie sich nicht bewegen. Und dann kommt auf einmal der Kopf ein Stückchen heraus, und plötzlich ein Großteil des Körpers. Es ist gigantisch, wenn man sieht, wie lang achtzehn oder zwanzig Meter sein können. Wenn der Wal beginnt, sich so zu bewegen, dauert es nicht mehr lang bis zum Abtauchen. Schließlich krümmt er sich, und danach taucht die Schwanzflosse aus dem Wasser auf, während das Tier nach unten schießt. Einen Kilometer in die Tiefe.
Die fünf Pottwale blieben eine Weile an der Oberfläche, bis der erste abtauchte, einige Minuten später der zweite, kurz darauf der dritte, dann der vierte und der fünfte.
So viele auf einmal zu sehen, ist eine Seltenheit. Unser deutscher Guide meinte, er hätte noch nie so viele gleichzeitig gesehen, und er machte seinen Job schon sehr lange.
Auf der Rückfahrt schien den meisten Leuten auf dem Schiff das Meer viel ruhiger. In Wirklichkeit war das nur, weil die Wellen von hinten kamen, aber sie waren noch genauso hoch wie zuvor. Übrigens wurde Gemüsesuppe serviert, aber so sehr wollte ich mein Glück angesichts meines robusten Magens, der die Kotzerei von so vielen Leuten ignoriert hatte, doch nicht herausfordern, obwohl ich durchaus hungrig gewesen wäre. Immerhin waren wir über vier Stunden draußen.
Das Ganze liest sich jetzt so einfach. Ja, da waren fünf Pottwale. Na und?
Da waren fünf Pottwale. Tiere, die man sonst nie im Leben zu Gesicht bekommt. Nicht nur einer oder im Glücksfall ein zweiter, sondern fünf. Aber um ehrlich zu sein, einer hätte schon genügt. Einer hätte schon genügt, um einen Eindruck zu geben von der Größe und der Schönheit und der gewaltigen Stärke dieser Tiere, die in einem Lebensraum zu Hause sind, den wir Menschen nicht einmal erahnen können, und der trotzdem den größten Teil unseres Planeten ausmacht.
Wir sind – wie viele? – acht Milliarden, Tendenz leicht steigend und in absehbarer Zeit fallend, und wir haben es geschafft, in hundert Jahren unseren Lebensraum so zu zerstören, dass wir den gesamten Planeten verändert haben. Wir haben sogar den größten Teil der Erde, die Ozeane, die gar nicht unser Lebensraum sind, so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass die Natur zurückschlägt. Die Wale gibt es seit viel längerer Zeit als uns, und sie werden uns überleben, obwohl die Menschheit auch sie beinahe ausgerottet hätte. Den Walen kann es auch egal sein, ob der Meeresspiegel steigt oder der Golfstrom zu strömen aufhört, sie überstehen das.
Ich versuche herauszufinden, was das Besondere an diesem Erlebnis war. Es war ein ganz besonderes Erlebnis, das ist klar. Aber was war es genau, das mich so tief berührt hat?
Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wirklich die Tatsache, ein Tier gesehen zu haben, dessen Größe sich mir in keiner Weise erschließt und dessen Lebensraum für mich und für alle anderen Menschen für immer ein Geheimnis bleiben wird, und das, obwohl wir auf derselben Erde zu Hause sind. Es ist Tatsache, dass wir mehr über unser Sonnensystem wissen als über die Ozeane auf unserem eigenen Planeten. Vielleicht das alles zusammen.
Heute ist der 26. Tag meiner Reise, und ich habe das Tier in mir gespürt. Das Faultier. Habe ich ja schon erwähnt. Aber immerhin habe ich geschrieben. Direkt am Strand. Wie gut kann es einer einzelnen Person eigentlich gehen? Mittlerweile sitze ich nicht mehr neben Annie Way, sondern in Annie Way, denn es hat zu regnen begonnen.
Das heißt, dass mein Abendspaziergang entfällt. Aber ich muss mir ohnehin noch überlegen, wo ich morgen hinfahre. Auf die Lofoten auf jeden Fall. Mal sehen.